Erschienen in : Donaustrudl Integration
Nr. 148, August 2011

 

Zur Kritik des Integrationsbegriffes

Niemand weiß, was das Wort Integration eigentlich bedeutet.
Und ja, ich kenne die Lehrbuchdefinitionen und die schönen Graphiken dazu, die so bunt veranschaulichen, wie Integration gefälligst von Inklusion, Exklusion oder gar Separation abzugrenzen sei, drei weitere Begriffe aus dem Wörterbuch des Gutmenschen, die genau so wie die Integration einer Sprachregelung unterliegen und somit wie bei jeder Form von Sprachregelung an den Zeitgeist gebunden sind. Die u.a. im Rahmen der Kriminalistischen Studiengemeinschaft Bremen e.V. tätige Sozialpsychologin Sabine Sagermann weicht von den schwammigen Erläuterungsversuchen der sonstigen Fachliteratur ab und definiert Integration als "anpassen, unterordnen und einfügen in ein größeres Ganzes unter Aufgabe des Eigenen". Integration wird dann ausgedeutscht als so werden wie wir es sind, wobei an Stelle dieses wir nun jedwedere soziale Gruppe aufgerufen ist, sich selbst einzusetzen. Es werden dann aber nicht nur die Individuen in der Gruppe gleichgeschaltet, eine Stufe höher gedacht müssen folgerichtig die auf Integration ausgerichteten sozialen Gruppen auch danach trachten, sich, und sei es unter Anwendung von Zwang, gegenseitig zu integrieren. In letzter Konsequenz steht am Ende die totale Integration, ein Einheitsbrei, wie ihn Tristram Jamesson in Anlehnung an die ähnlich lautende Definition aus der Physik in Form des "sozialen Bose-Einstein-Kondensats" beschrieben hat, als " [ein] Zustand eines sozialen Systems ununterscheidbarer Normaler, in dem sich der überwiegende Anteil der Teilhaber (…) im selben sozialen Zustand befindet. Im Kondensat des Normalsten sind die Maßstäbe des Normalen vollständig delokalisiert, die Wahrscheinlichkeit des Normalsten, es an einem bestimmten Punkt innerhalb des Kondensats anzutreffen ist also überall gleich groß". Oder etwas einfacher gesagt, eine dermaßen hochintegrierte Gesellschaft lässt keine Abweichler mehr zu, und überall, wo der hypothetische Beobachter hinkommt trifft er nur auf die gleichen langweiligen Repräsentanten dessen, was sich die Integrierer unter einem gut Integrierten vorstellen.

Bringt uns das Streben nach Integration also auf den Weg zur uniformen Gesellschaft? Die Art und Weise der Sprachregelung legt diese Befürchtung nahe. Integration wie auch die anderen eingangs genannten Begriffe aus ihrem sprachlichen wie ideologischen Umfeld ist ein Derivat aus dem Lateinischen, einer toten Sprache mithin, die außer von ein paar Altphilologen und der auch immer kleiner werdenden Minderheit jener, die an der Schule noch ein ordentliches Latinum machen konnten, von niemandem mehr verstanden wird. Integration wird somit zum Kunstwort, das, zunächst inhaltsleer, von jedermann nach eigenem Gutdünken mit beliebigen Inhalten gefüllt werden kann. Ich darf hier daran erinnern, dass es gerade mal etwas über zwanzig Jahre her ist, dass Politiker einer großen Volkspartei von der "durchrassten Gesellschaft" gesprochen haben. Anstelle dessen bietet sich heute der Begriff von "Integrationsverweigerer" an, befreit von den allzu offensichtlichen Anklängen an das Vokabular der NS-Sprache wird der verknüpfte Inhalt stracks vom Wörterbuch des Unmenschen ins schon zitierte Wörterbuch des Gutmenschen befördert. Aber die Uniformierung der Gesellschaft durch Uniformierung der Sprache hat noch andere Aspekte. Ich möchte, weil es gerade so schön passt, beim Beispiel der Uniform bleiben. In einem Artikel in der neuen Manifestation des Wissens der Menschheit, der Wikipedia (Merksatz: "Was nicht in Wikipedia steht gibt es nicht.") ist zu lesen: "Uniformen fördern den Ausdruck charakterlicher Individualität." Ich bitte nun meine Leserschaft, sich diesen Satz einmal auf der Großhirnrinde zergehen zu lassen: Uniform als Ausdruck von Individualität. Auch das ist ein Merkmal von überregulierter Sprache, dass sie nämlich zum Zweck hat, zwei einander logisch diametral widersprechende Sachverhalte als beide wahr zu verkaufen. So festgestellt vom Urvater aller moderner Sprachkritik, George Orwell im Anhang über Neusprech zu seinem bekannten Roman 1984. Aber die Uni-Form hat immer noch den Vorteil, dass sie als theoretisches Konstrukt die Poly-Form als ‐ das ist wichtig ‐ sprachlich zunächst wertneutralen Gegenbegriff zulässt. Was ist nun das Gegenteil von Integration? Es lässt sich sprachlich keines formulieren außer der Desintegration, die schon mit einem Negativum als Suffix belastet und damit als Begriff automatisch negativ besetzt ist. Auch diese Sprachregelung wurde schon in den Richtlinen für Neusprech so festgeschrieben, erneut grüßt Bruder Orwell. Eine integrierte Gesellschaft ist damit schon insofern uniform, als dass sie es nicht mehr möglich macht, eine Abweichung zu denken ohne damit automatisch negative Assoziationen zu verbinden.

Um zum Ende hin nochmal sehr frei Frau Sagermann zu interpretieren: Wer integriert, kann nicht mehr differenzieren. Die Möglichkeit, dass ein vom eigenen abweichender Standpunkt, und sei es auch nur situationsbezogen, möglicherweise der richtige sein könnte, und damit die Existenzberechtigung abweichender Standpunkte überhaupt, geht verloren. Schönes Beispiel hierfür ist der Mythos von der Gleichheit der Menschen. Bei genauerer Betrachtung, liebe Leserinnen und Leser, werden sicher auch Sie feststellen, dass keine zwei Menschen gleich sind. Jeder Mensch hat andere Veranlagungen, Fähigkeiten und Bedürfnisse, und was für den einen gut genug ist reicht dem anderen noch lange nicht. Die Problematik löst sich auf, wenn man statt der Gleichheit von der Gleichwertigkeit aller Menschen spricht. Die Vorstellung, dass jemand anders als wir, aber trotzdem von gleichem Wert sein kann ist den Integrationspredigern ein Gräuel. Ebenso wie der Begriff der Gleichwertigkeit an sich. Er hat den Vorteil, dass er aus einer lebenden Sprache stammt und nicht nur Muttersprachlern, sondern auch Menschen, die Deutsch erst als Zweitsprache erlernt haben logisch zugänglich ist. Außerdem spielt er auf einen vielgeschundenen Begriff an, der in letzter Zeit etwas aus der Mode gekommen ist, nämlich auf den Begriff der Werte. Anstelle der stupiden Vereinnahmung durch Integration lässt die Gleichwertigkeit eine Wertediskussion zu, und zwar eine kritische, d.h. übersetzt unter Anwendung von Kriterien, und beschäftigt sich dabei im Idealfall nicht nur mit den fremden, sondern auch den eigenen Werten.

Und apropos fremd, eine kleine Exkursion zum Schluss. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Integration zu oft engstirnig mit Migration verknüpft. Nach wie vor werden - auch hier in Regensburg - Menschen wegen einer Behinderung, ihres sozialen Status, ihrer sexuellen Identität oder abweichender politischer, weltanschaulicher oder gemeingesellschaftlicher Meinungen an den Rand der jeweils gesellschaftlich dominanten Gruppe gedrängt; ein Migrationshintergrund ist dazu nicht erforderlich. Dementsprechend meine Bitte, betrachten Sie nicht nur Ausländer, sondern alle Ihre Mitmenschen unter der Prämisse, wonach die Freiheit des Individuums ihre Schranken dort und nur dort findet, wo sie in die Freiheit anderer eingreift.

 

 


 

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