Tartarogonie

 

Wer von einer Reise zurückkommt, von dem wird gemeinhin erwartet, dass er etwas zu erzählen habe. Im geringeren Maße gilt dies auch für Kriegsheimkehrer, von ihnen wird erwartet, dass sie "das Richtige" erzählen, jeweils abhängig vom weltanschaulichen Standpunkt ihrer Zuhörer.

Nun bin auch ich wieder zurück aus der Krisenvollpension, und während ich es vor meiner Abreise noch so formuliert habe: "Ich kehre zurück an den Ort meines größten Sieges, des Sieges über mich selbst.", weiß ich nun, zwei Wochen später, dass ich damals zwar einen bedeutenden, aber eben nur einen Etappensieg errungen habe. Jetzt, nur noch wenige Stunden vor meiner Entlassung, weiß ich, warum der, den Einstein den "Alten" [1] nannte, mich an diesen Ort[Ext.] zurückgeführt hat, warum er es zu diesem Zeitpunkt getan hat, unter diesen Voraussetzungen und in dieser Personenkonstellation, letztere wesentlich geprägt durch die schmerzliche Abwesenheit einer Reihe wichtiger Personen.

Der Schreiber, der Beobachter, der Denker, der Empfinder, letztlich der – im besten lateinischen Wortsinne – Sensor, der sich als Patient erneut auf eine Borderline-Station [Ext.] versetzt findet, findet sich dort erneut konfrontiert mit der Vielschichtigkeit menschlichen Leides, das sich vor ihm ausbreitet – weil es sich hier ausbreiten kann – ebenso wie mit der bisweilen erschreckenden Qualität der Masken und Mauern, hinter denen es sich allzu gerne verbirgt. Und er reagiert, qualitativ anders als der Gesunde, nicht mit Unverständnis und Ablehnung, sondern, quantitativ in wesentlich stärkerer Ausprägung, mit, in dieser Reihenfolge, Empathie, Abgrenzung, Fragestellung, und, wenn all das nicht mehr hilft, Entsetzen.
Entsetzen nicht über seine Mitpatienten, sondern über das, was vorgeblich gesunde Mitmenschen jenen Mitpatienten angetan haben müssen, um daraus jenes Persönlichkeitsbild entstehen zu lassen, das von anderen (in besonders furchtbaren Fällen auch den selben) Mitmenschen letztlich als krankhaft eingestuft wird.

Wenn das Entsetzen überwunden werden kann – und es ist ein fürchterlicher Gegner, dem beizukommen alles verlangt – wartet Balsam für die Seele. Es ist das Geschenk des Verstehens. Es bedarf dazu der übermenschlichen Kraft eines Borderliners, einer Kraft, die viele Gesunde nicht aufzubringen vermögen. Am Ende steht die Erkenntnis, und sie birgt das Potential der Freiheit in sich.
Die zuvor geäußerte Fragestellung erfährt Antwort. Die Frage, was die Menschen bewegt, ihresgleichen und damit letztlich sich selbst immer wieder nur allzu gut vorstellbare Grausamkeiten anzutun wird beantwortet durch das Konzept der Tartarogonie.[Ext.]

Dieses Streben nach der Hölle als ein offenkundig dem Menschen innewohnendes Handlungsprinzip, sich selbst und anderen in diesem an sich paradiesischen Ort, den wir bewohnen ein möglichst unwirtliches, ja grausames Lebensumfeld zu bereiten.

Das rituelle Praktizieren dieses lustvollen sich Erfreuens an fremden wie an eigenem Leid – die pathologische Definition von Sadomasochismus – das durch mit der Zeit in ihrer Komplexität immer bizarrer werdende weltanschauliche Metaphern gerechtfertigt wird.

Und doch ...

Im altiranischen Konzept von Ariman und Ahura [Ext.], im Prototypus des Doktor Faustus, der das glückliche Privileg genießt, die überschaubare Anzahl von nur zwei Seelen in seiner Brust wohnend vorzufinden, zeigt sich der Gegenpol einer dem Menschen wohl ebenso inhärenten, wenngleich offenkundig subdominanten Handlungsmaxime, schimmert das Streben nach der Überwindung der Hölle und damit letztlich nach der Überwindung des Menschen auf dem Weg zur Autoapotheose, zur Selbstvergottung.

Die Hölle zu überwinden, zu diesem Zweck werden Religionen gestiftet.

Isa bin Mariam [Ext.], der muslimische Name sei hier gewählt, um die emotionale Besetzung, die sein in unserem Kulturkreis gebräuchlicher lateinischer Name beinhaltet von vornherein auszuschließen, erklärt: "Das Himmelreich ist in euch!"[2] und verweist damit drauf, dass die Überwindung der Hölle nicht von äußeren Faktoren, sondern von der Haltung der Menschen sich selbst gegenüber wesentlich abhängt, und der Prophet [Ext.], der aus den dargelegten Gründen hier ebenfalls nicht anders genannt werden soll, sagt sogar: "Gott will, dass es dem Menschen gut geht!", in letzter Konsequenz bedeutet dies, dass ein Mensch, der mit freiem Herzen zulassen kann, dass es ihm gut geht die Hölle überwunden hat und Gott gleich geworden ist.

Damit ist die Tartarogonie letztlich eine Theophobie [Ext.], die in ihrer letzten Konsequenz zur Autophobie wird, zum horror ipsum, der tief empfundenen Angst der Menschen vor dem eigenen Selbst.

Wer nun unter den Vorgaben des bisher dargelegten die Lexikondefinition des Schamanen oder Medizinmannes der so genannten primitiven Kulturen mit der Lehrbuchtypisierung des Borderline-Patienten vergleicht, wird erstaunliche Parallelen erkennen. Der Schamane hat in der Stammesgesellschaft nicht die politische, wohl aber die spirituelle Führungsposition inne, da er beide Seiten des menschlichen Strebens nicht nur kennt, sondern aktiv in einer Person verkörpert. Dies mag auch die technologische Überlegenheit der "modernen" Zivilisationen (einschließlich der Möglichkeit der Selbstauslöschung [Ext.]) ebenso erklären wie die für sie typische, tief empfundene spirituelle und moralisch-ethische Sinnentleertheit. Und wenngleich begriffsgeschichtlich von völlig anderer Herkunft, wird "The Borderline" [Ext.], die Grenzlinie, zu einer stimmigen Metapher, ist der Borderliner der Seiltänzer, der über dem Abyssos zwischen Elysion und Tartaros balanciert, dem Abgrund zwischen Himmel und Hölle, ein Abgrund, der sich selbst "Mensch" tituliert, und "The Borderline" ist dann nicht mehr Trennlinie, sondern verbindendes Element, freilich nicht für jeden gangbar.

Die Zerrissenheit zwischen Himmel und Hölle ist das Urerbe der Menschen, und der Borderliner ist dem gesunden Menschen deshalb ein Schrecken, weil er diese Zerrissenheit nicht als Kollektiv, nicht als soziales Kondensat und nicht als Metapher von Politik oder Religion ausdrückt, sondern sie ausübt als Persönlichkeit, als Individuum, als Person, als Selbst.

Wer dazu disponiert ist, wagt den Balanceakt auf der Borderline. Das Schlimmste, was ihm passieren kann ist der Absturz in die Menschlichkeit.
Da nun gemäß einer bekannten Redensart die Hoffnung immer als letztes stirbt, lasse auch ich zum Ende des Konzentrats meiner dreizehnten Woche auf der Borderline-Station das Fünkchen Hoffnung, das ich angefacht habe, auch gleich wieder ersterben. Eric Arthur Blair[3] sagte: "Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht drauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.", und ich habe vieles gesagt, was niemand hören wollte. Ich habe die purificatio vollzogen und die illuminatio erreicht[4]. Nun ist alles Sagenswerte gesagt, und selbst die Steine haben aufgehört zu schreien[5] . Ich rechne auch mit heftigem Widerstand und Ablehnung gegenüber dem, was ich hier niedergeschrieben habe, denn auch das ist eine Eigenschaft des Menschen, das, was er nicht versteht kategorisch abzulehnen.

Gleichzeitig verspüre ich keinerlei Motivation, mich zu erklären. Wer es fassen kann, der fasse es. [6]

Ich habe mich in dreizehn Wochen weiter entwickelt als in den 36 Jahren davor. Dass dabei ein großer Teil meines sozialen Umfeldes hinter mir zurückgeblieben ist, hat mir lange Zeit Leiden verursacht. Jetzt, seit ein paar Stunden, seit ich erkannt habe, welche Mechanismen dieses Zurückbleiben verursacht haben, schwächt sich das Leid ab, der Schmerz schwindet, an seine Stelle tritt etwas anderes. Die Zahl derer, die mit mir Schritt halten, ist gering, aber es sind, wie es ein weniger bekanntes Lied formuliert, "Kameraden ohne Gleichen, und ein Rückwärts gibt es für uns nicht."[7] Doch einige fehlen. Einige, die ich so gerne an meiner Seite wüsste. Es sind nun elf Jahre her, dass Sarah[8] gestorben ist, und ich resigniere darüber, dass ihr Tod nichts bewirkt hat, außer mir diesen unbändigen Willen zum Überleben zu geben, ein Wille zum Überleben, mit dem ich in einer auf schleichende, dafür um so effizientere Selbstvernichtung ausgelegten Sozialordnung fehl am Platz geworden bin.

Zwar mag ich Erkenntnis erlangt haben, aber die Erlösung findet nicht statt, die Kruzideszendenz ist vertagt. Warum sollte ein Erlöser auch vom Kreuz herabsteigen, was hätte er unter den Menschen verloren, zwischen Joko und Klaas, zwischen Hasenbergl[9] und Hartz-IV-Fernsehen.

Voltaires Wort ist nur zu wahr: Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, aber der Mensch hat es ihm heimgezahlt.[10] Indem der Mensch das Streben nach der Überwindung der Hölle aufgab, hat er den alten Gott getötet, und da er nun die Selbstvergottung für sich beansprucht und gleichzeitig in der Theophobie verharrt, ist die fatale Konsequenz daraus das Streben nach Selbstvernichtung. Katyn und Seveso, Hiroshima und Bhopal, My Lai und Tschernobyl[11] waren keine Katastrophen. Es waren logische Fortsetzungen der unsäglichen Verbrechen gegen das Leben, die nach wie vor, auch jetzt, während ich dies schreibe, in unseren Siedlungen, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ohne Unterbrechung von normalen, gesunden Menschen an Ihresgleichen begangen werden.

Manès Sperber[Ext.] sagte, für ihn war mit einem mal ein Punkt erreicht, an dem es leichter war zu schreiben als nicht zu schreiben. Ich kenne diesen Punkt, ich hatte ihn vor elf Jahren, elf Jahre habe ich mich bemüht, gegen den Wahnsinn anzuschreiben, und meine Mühen waren wie eine Träne im Ozean[12]. Für mich wird es nun Zeit, zu schweigen. Wer nichts von den Dingen weiß, der redet viel über sie, und wer Erkenntnis von den Dingen erlangt, der hört auf, zu reden. Ich werde noch Chronist der Ereignisse sein, aber nicht mehr deren Interpret.
Daran ist nichts trauriges und nichts enttäuschendes. Ich überlebe, das ist wichtig und gut, und ich erwidere den Blick des Abgrunds mit einem gelassenen Lächeln[13].

Trotz allem, was ich an Grausamkeit gesehen und gehört, erlitten und selbst zugefügt habe, glaube ich bis heute fest an das Gute im Menschen.

Das ist der eigentliche Horror.

 

Haar, 18.8.2012
L.R.

 

 

[1] "Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns doch nicht näher. Jedenfalls bin ich überzeugt davon, dass der nicht würfelt.", 1926, in einem Brief an Max Born. [Info] [zurück]

[2] Lk. 17, 20-21, vgl. auch Tolstoi, Lew Nikolajewitsch: Tsarstvo Bozhiye vnutri vas, EA 1894 [Info] [Info] [zurück]

[3] Aus dem Nachwort zu "Farm der Tiere", 1945. Na, klingelts...? [Info] [zurück]

[4] sequit theosis [zurück]

[5] Lk. 19, 40 [Info] [zurück]

[6] Et qui habet aures audiendi audiat! [Info] [zurück]

[7] "Spaniens Himmel", Paul Ernst (i.e. Gudrun Kabisch, Text) & Paul Dessau (Musik), 1936 [Info & Text] [zurück]

[8] Sarah Julia Schimmack, 16.8.1975-15.8.2001, Freitod [zurück]

[9] Für meine außerbaierische Leserschaft: Der Stadtteil von München, von dem man Touristen erklärt, dass sie dort ganz bestimmt nicht hinwollen. [zurück]

[10] de Maupassant, Guy: "Der Horla", 1887 [Volltext] [zurück]

[11] Eine Auswahl an Massakern und Umweltzwischenfällen des 20. Jahrhunderts. [Info Katyn]   [Info Seveso]   [Info Hiroshima]   [Info Bhopal]   [Info My Lai]   [Info Tschernobyl]   [zurück]

[12] Sperber, Manès: "Wie eine Träne im Ozean", dt. EA 1961 [Info] [zurück]

[13] vgl. Nietzsche, Friedrich: "Jenseits von Gut und Böse", Aph. 146 ... nun kommt schon, Ihr habt doch all die vielen Nietzsche-Anspielungen als solche erkannt, oder...? [Info] [zurück]

 

 


 

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