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Esmeralda und der Märchenprinz

Eine Geschichte aus der Nachfüllbar

 

"Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, liebe Stammgäste, meine lieben Freundinnen und Freunde ... und Hörmän. Ich habe euch heute alle hierher gebeten, um euch etwas mitzuteilen. Ich mag vielleicht aus dem aktiven Dienst der Nachfüllbar ausscheiden, aber es gibt einige äußerungen, die ich in diesem Zusammenhang für unangebracht halte. Ich verschwinde nicht von der Bildfläche, ich mache mich nicht aus dem Staub, ich gebe nicht das Gläsertuch ab, und ich suche mein Glück auch nicht woanders. Worte, die ich in diesem Zusammenhang auch nicht hören will sind z.B. Rente, Ruhestand oder Lebensabend. Wer es wagen sollte, solches oder ähnliches vor oder gar hinter meinem Rücken über mich zu sagen, dem wird es ergehen wie dem armen Hörmän hier, der sich schon netterweise neben ich gekniet und sein dämlichstes Grinsen aufgesetzt hat..."

An dieser Stelle begann der nun schon seit einigen Wochen immer wiederkehrende Traum, für Esmeralda unangenehm zu werden. Zwar hatte sie mit einem Mal einen großen und sehr schweren Vorschlaghammer in der Hand, den sie Hörmän mit voller Wucht ins Gesicht pfefferte, wo er auch entsprechende Verwüstungen hinterließ, aber das erwähnte Grinsen zeigte sich davon völlig unbeeindruckt. Sie übergab dann den Hammer an ihre neue Kollegin und Nachfolgerin Felicitas, die weiter auf Hörmän einschlug, während Esmeralda mit ihrer kleinen Abschiedsrede fortfuhr, und als sie sich nach einigen Minuten umdrehte, waren Hörmäns Kopf und dessen bescheidene Inhalte mehr oder weniger gleichmäßig über den Fußboden, den Hammer und über Felicitas verteilt, das dämliche Grinsen hing freilich weiterhin im Raum, formlos, omnipräsent und anscheinend völlig Hörmän-autonom. Nun ja, so manche Träume, die gut beginnen, gewinnen mit der Zeit alptraumhafte Züge.
Esmeralda erwachte mit einer gewissen Erleichterung. Die nächsten Wochen würde sie damit verbringen, Felicitas in ihren neuen Tätigkeitsbereich einzuführen, was im Wesentlichen die grundlegendsten Hörmänbekäpfungs- und Wie-bringe-ich-den-MoF-um-halb-vier-aus-dem-Laden-raus Taktiken umfasste, sowie natürlich das Wissen um die Inhalte der zahlreichen Flaschen und Fläschchen und die Kunst, daraus bekömmliche Getränke erfrischender bis niederschmetternder Natur zu mischen. Der theoretische Teil umfasste die Kenntnis des so genannten Nachfüllbaren Moralkodex, den Esmeralda nach Jahren im Dienst an, mit und manchmal auch gegen Hörmän entwickelt hatte und bei dem es hauptsächlich darum ging, was sie in der Nachfüllbar weder sehen noch hören wollte, nicht von Kundschaften im Allgemeinen, und vor allem nicht von Hörmän im Besonderen. Am Schluß von Felicitas' Ausbildung, etwa gegen Weihnachten, würde die feierliche Übergabe der Dienstwaffe sowie des Schlüssels zum zweiten Untergeschoß stehen. Esmeralda hatte sich schweren Herzens entschlossen, das Team Nachfüllbar zu verlassen, wobei Hörmän, anders als es vielleicht den Anschein haben mochte, nicht der einzige Grund war, und sie war sich sicher, daß ihr eine glänzende Zukunft bevorstand. Weniger sicher war sie sich darüber, ob das auch für die Nachfüllbar galt. Bezeichnend dafür mögen die Gedanken sein, die ihr durch den Kopf gingen, als sie sich auf den Weg machte. "Die Doppelläufige", dachte sie, als sie am Waffenschrank vorbeiging, "warum nehme ich heute mal nicht die Doppelläufige mit.", und als sie die Wohnungstür hinter sich absperrte "Warum heißt es eigentlich Alptraum, ich träume doch nie von Bergen ..."

In der Nachfüllbar herrschte bei Esmeraldas Eintreffen bereits rege Betriebsamkeit. In wenigen Tagen würde der Laden in das dritte Jahrzehnt seines Bestehens eintreten, und praktisch die gesamte Belegschaft arbeitete nun auf Hochtouren, um diesem Jubiläum auch einen würdigen Rahmen zu verleihen. Tatsächlich erklangen aus dem Nebenraum Geräusche, die auf hämmern, sägen und schrauben schließen ließen - nageln war in der Nachfüllbar durch den Nachfüllbaren Moralkodex untersagt - nur dort, wo eigentlich die Wir begrüßen unsere beliebteste Mitarbeiterin Zeremonie stattfinden sollte, herrschte auffällige Leere. Schließlich ging Esmeralda doch in den Nebenraum, in dessen Mitte sich etwas im Aufbau befand, was vage wie ein Boxring aussah. "Bissl niedrig vielleicht", dachte Esemralda, als Anser mit verlegenem Grinsen in ihr Blickfeld trat.

"Hallo Eseralda, wir haben heute gar nicht so früh mit dir gerechnet, weißt ja, Felicitas kommt heut auch ein wenig später, und da dachten wir ..."
"Was geht hier vor?", fragte Esmeralda und dachte "Hätte ich nur doch die Doppelläufige mitgenommen."
"Nuuuuun, wir haben überlegt, das Konzept der Nachfüllbar etwas ... den Anforderungen des neuen Jahrtausends anzupassen..."
Anser versuchte möglichst unauffällig, einen kleinen Karton mit dem Fuß hinter das Sofa zu schieben, aber Esmeraldas geschärften Sinnen entging nichts. Sie schob Anser zur Seite, öffnete die Schachtel und entdeckte darin bunte Flyer und Plakate, sie griff nach einem davon und entrollte es vor ihren Augen.

Die Stimmung im Nebenraum der Nachfüllbar veränderte sich auf drastische Weise. Die gewölbten Wände und die niedrige Decke glühten wie im flackernden Widerschein des Höllenschlundes, als Esmeralda die glühende Zornesröte ins Gesicht stieg. Dampf stieg von ihr auf. Einige der erfahreneren Keeper versuchten, irgendwo in Deckung zu gehen, die ganz erfahrenen suchten nach ihren Harakiri-Schwertern.
"Ihr spinnts wohl...", brachte Esmeralda gepresst hervor, "ihr kriegts wohl das Gesäß nimmer ganz zu ... was um alles in der Welt soll das bedeuten?", fauchte sie Anser an und fuhr fort, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.
"Jeden Adventssonntag: Schrille Nacht! Damen-Schlammringkampf mit anschließender Preisverleihung Wer hat am wenigsten Bikini. Auf wessen Mist ist das denn gewachsen?"
"Naja," meinte Anser, "die meisten von den Jungs und ehrlich gesagt auch ein paar von den Mädels fanden die Idee ganz gut, und wir haben überlegt, auch als Damen verkleidete Herren zu den Kämpfen zuzulassen ..."
"Und was soll das sein?" schrie Esmeralda weiter, "jeden dritten Mittwoch im Monat Die Nacht der einsamen Schmerzen?"
Schließlich glitt ihr Blick weiter nach unten, zu den Höhepunkten des Programms. Esmeralda verstummte kurz, dann platzte es aus ihr heraus.
"Wie um alles in der Welt könnt ihr sowas nur zulassen? Besagt Regel Nummer Eins des Nachfüllbaren Moralkodex nicht: Hörmän zieht sich nicht aus, spricht nicht darüber, wie es wäre, sich auszuziehen und ermutigt auch keine anderen Personen (insbesondere nicht den MoF), darüber zu reden, wie es wäre, wenn Hörmän sich ausziehen würde oder wenn er darüber reden würde, wie es wäre, sich auszuziehen?"
"ähm, es ist nicht so, wie du denkst ..."
"Warum denn? Hier steht ganz deutlich Vom Liebesleben der Kellerkinder. Erotische Performance von und mit The Sabia Experience & BigBadHörmän...!"
"Spricht hier etwa jemand von mir?"
Im Durchgang zum Hauptraum erklang eine Stimme. Esmeralda wirbelte herum ... und zögerte dann. In dem gemauerten Bogen stand nicht etwa ihre alte Hassliebe Hörmän F. Selbert. Der Mann, der dort stand, hatte zwar gewisse Ähnlichkeit mit Selbert, wirkte aber wesentlich gepflegter und vor allem schlanker, gekleidet in elegantes Schwarz, wobei einige Stellen den Eindruck von Blutflecken erweckten.
"Wer sind sie?", stotterte Esmeralda, "ähm ... haben sie zufällig einen halbdebilen Zwillingsbruder, ähm, ich meine ... nein ... wie heißen sie eigentlich?"
"Mein Name lautet Dieanderepersongleichennamens. Hörmän Dieanderepersongleichennamens. Hier ist meine Karte. Und mit wem habe ich das werte Vergnügen?"
"Eseralda!", hauchte Esmeralda, "einfach ... Esmeralda."
"Nun, Frau Einfachesmeralda, würden sie es mir gestatten, sie von dieser Baustelle zu entführen? Ich denke, es wäre doch wohl für uns beide wesentlich angenehmer, wenn sie mir bei einem Gläschen an der Bar Gesellschaft leisteten."
"Sehr gerne! Das ist ein ... sehr ungewöhnlicher Nachname, den sie da tragen."
"Ganz und gar nicht. Sie würden nicht glauben, wie oft ich verwechselt werde."
"Und ihre Internet-Adresse lautet www.boesewicht.org?"
"Ja, boesewicht mit oe. Erstaunlich, nicht wahr?"


Dieanderepersongleichennamens Stimme erweckte in Esmeralda die Vorstellung von Champagner und Lachsbrötchen, von karibischen Sonnenuntergängen und knisternder Erotik, wohingegen Selberts Stimme bei ihr immer nur die Vorstellung von Bratwurst mit Sauerkraut, oberpfälzer Zwölfuhrläuten und schlag-ihn-bis-er-platzt-Sadismus erweckt hatte. Als sie in den Hauptraum gingen, saß Hörmän F. Selbert dort auch schon auf seinem Stammplatz und winkte Esmeralda zu.
"Hey Esmeralda, hast du die neuen Plakate schon gesehen? Da steht..."
Es erklang ein Geräusch wie von einem 600-Pfund-Dampfhammer, der auf ein kleines paniertes Schnitzel trifft, als Esmeralda ihre Faust in Selberts Gesicht rammte.
"Sie sind eine Frau ganz nach meinem Geschmack", sagte Dieanderepersongleichennamens, "wollen wir nicht woanders hingehen? Ich habe zu Hause eine interessante Lamborghini-Sammlung. Sie dürfen auch probefahren ..."
Während die beiden in die Nacht verschwanden, versuchte Anser tief unten im Keller, den echten Hörmän wiederzubeleben ...

 

 


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