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Ein Märchen
Wenn diese schweigen,
werden die Steine schreien!
Lk. 19,40
Es war einmal ein Mann, der in einer kleinen, alten und recht nebligen Stadt lebte. Es schien dem Mann tatsächlich so, als ob die Jahreszeit in dieser Stadt überhaupt keine Rolle spielen würde, denn jeden Tag, wenn er in dem kleinen Zimmer, das er bewohnte, morgens erwachte und aus dem Fenster sah, sah er dort draußen nur den Nebel, den allgegenwärtigen, der ihn auch umgab, wenn er dann in die kleine Schreibstube ging, in der er seine Arbeit hatte.
Dort waren die Fenster so klein und so hoch angebracht, daß der Mann nicht nach draußen sehen konnte. Aber darüber war der Mann eigentlich ganz froh, weil er sich sagte, daß er dann wenigstens den Nebel nicht sehen müßte; der Nebel, von dem er wußte, daß er ihn auch schon wieder vor der Tür erwarten würde, wenn der Mann abends nach Hause ging, zurück in sein kleines, altes Zimmer in der kleinen, alten und nebligen Stadt.
Der Mann besaß nicht viel, ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett standen in dem kleinen Zimmer, außerdem hatte er noch einen Topf, ein Teller, ein Meßer, eine Gabel und einen Löffel für die Suppe. Einen Schrank hatte der Mann nicht, denn er besaß nicht annähernd so viel Kleidung, als daß es sich gelohnt hätte, dafür extra einen Schrank in das kleine Zimmer zu stellen. Es war auch keine besondere Kleidung, denn im Nebel, so sagte sich der Mann sieht man mich sowieso nicht, weshalb sollte ich mich also hübsch anziehen, weshalb sollte ich mir die Haare schneiden oder den Bart stutzen laßen, wenn es doch in dem Nebel ohnehin alles einerlei ist.
Und so ging der Mann, der so wenig hatte jeden Tag durch den Nebel, in seinem grauen Anzug, mit den ungeschnittenen Haaren und dem strubbeligen Bart, von seinem kleinen Zimmer in die kleine Schreibstube, und abends wieder zurück, nicht jedoch, ohne vorher noch beim Krämer vorbeizusehen und sich eine Flasche Wein mitzunehmen, die ihn an den langen grauen Abenden in dem kleinen Zimmer Gesellschaft leisten sollte. Und obwohl der Mann in seinem kleinen Zimmer nicht viel hatte, so wußte er doch, daß er mehr hatte, als so manche anderen, auch wenn diese anderen in großen Häusern lebten, mit vielen Möbeln und großen Schränken, in denen sie ihre bunte Kleidung aufbewahrten. Denn der Mann hatte seit einiger Zeit eine große Liebe.
Die freilich wohnte weit weg, in einer anderen Stadt, die nicht so alt, auch nicht so klein und bei weitem nicht so neblig war. Und davor hatte der Mann sich erschrocken, als er eines Tages seine große Liebe besucht hatte. Denn als er dort aus dem Fenster sah, sah er keinen Nebel, er sah in die Ferne, und er sah, wie groß die Stadt war, und wie neu alles um ihn herum. Da bekam er es mit der Angst, und er taumelte zurück und klammerte sich an seiner großen Liebe fest, und er rief: "Halt mich fest, hilf mir, ich falle!"
Und daran erinnerte er sich. Denn er dachte andauernd, in jedem Moment, in dem er nicht gezwungen war, an etwas anderes zu denken, an seine große Liebe. Aber dadurch mußte er auch immer an den Schrecken und an die Angst denken, die er damals empfunden hatte.
Und an den langen, grauen Abenden in dem kleinen Zimmer fühlte der Mann sich dann sehr einsam, und eines Abends, als er auf seinem Stuhl saß und der Wein ihm den Kopf schon etwas schwer gemacht hatte, da erinnerte sich der Mann an etwas, was er schon lange nicht mehr getan hatte, und aus einem mehr unbestimmten Antrieb heraus hob er die Hände zum Himmel und rief: "Was hast du getan? Was hast du mir angetan? Warum sitze ich hier allein in diesem kleinen Zimmer in der kleinen, alten Stadt und habe niemanden, der mit mir spricht? Warum finde ich keinen von den Menschen, die ich mir immer so sehr als Begleiter gewünscht hätte? Und meine große Liebe, warum muß sie so weit weg sein, und warum kann sie mir kein Vertrauen schenken?"
Und der Mann rief es, und rief es hinaus, immer und immer wieder, aber eine Antwort bekam er nicht, so daß er schließlich erschöpft auf seinem schmalen Bett zusammensackte und einen traumlosen und doch unruhigen Schlaf schlief.
So ging es nun fast jede Nacht, bis der Mann eines Tages der ewig gleichen Leier überdrüßig geworden war, sich auch keinen Wein mehr kaufen mochte und schließlich verdroßen auf seinem schmalen Bett lag und die Balken der Zimmerdecke über ihm anstarrte. Da wurde er plötzlich gewahr, daß er sich nicht mehr allein in dem kleinen Zimmer befand. Er drehte den Kopf etwas nach links und sah mitten im Raum eine seltsame Gestalt stehen, fast so wie auf den Kupferstichen in den alten Büchern, mit denen er es in seiner kleinen Schreibstube tagein tagaus zu tun hatte, und weil der Mann es nicht beßer wußte, fragte er: "Bist du ein Engel?"
"Wenn du willst, kannst du mich einen Engel nennen" , sagte die Gestalt und schüttelte die mächtigen, schwarzen Schwingen, die sich hinter ihrem Rücken ausbreiteten, so daß der Lichtschein, der den Kopf des vermuteten Engels umgab, seltsame Schatten an die Wand hinter ihm warf. "Ich bin hier, weil du viele Fragen gestellt hast ..."
"Und du bringst mir Antworten?" , fragte der Mann.
"Nein" , sagte der düstere Engel, "ich bringe dir nur Vorschläge. Du mußt selbst wißen, ob es die Antworten sind, die du haben willst. Nun nimm meine Hand, ich möchte dich durch den Nebel führen und dir einiges zeigen."
Und da stand der Mann neben dem düsteren Engel und war auch schon fertig angezogen, und er nahm die Hand, die ihm dargeboten wurde, und zusammen gingen sie hinaus in die Straßen der kleinen Stadt.
Sie waren noch nicht allzu weit gegangen, da führte der düstere Engel den Mann eine Treppe hinunter in einen Kellerraum, und in dem Keller erkannte der Mann zahlreiche Bögen, uralte, gemauerte Bögen, die das Gewölbe trugen, und auch das Gebäude über ihnen. Und als sie unter einem dieser Bögen zu stehen kamen, da fragte der Engel den Mann:
"Was hörst du?" Der Mann lauschte in das Halbdunkel, aber kein Geräusch drang in den Keller vor. Er lauschte so angestrengt, daß sein Gesicht irgendwann begann, sich zu verkrampfen und er kaum mehr wagte, zu atmen, damit ihm auch ja kein Geräusch entging, und trotzdem hörte er nichts, war da nur Stille.
"Ich höre nichts", sagte der Mann und war sich nicht sicher, ob er die richtige Antwort gegeben hatte. Der düstere Engel nickte.
"Das stimmt", sagte er, "du hörst nichts, und du konntest auch die ganze Zeit vorher nichts hören. Der Nebel hat alle Geräusche gedämpft, und du, du hast dich so laut beklagt, daß du alles andere übertönt hast. Darum werde ich dir helfen. Und nun schweig..."
Und da hörte der Mann es, zuerst wie ein schwaches Säuseln im Wind, dann wie ein von weitem belauschtes Gespräch, und schließlich brach es wie eine Woge über ihn herein. Millionen von Stimmen, die er nicht mit seinen Ohren hörte, sondern die in seinem Schädel dröhnten, die sein Herz erzittern ließen und die ihn fast von den Beinen gerißen hätten. Millionen von Stimmen, die nach jemandem riefen, die um Hilfe oder um Gnade flehten oder die einfach nur furchtbar schrien. Der Mann taumelte unter dem Lärm in seinem Kopf, er versuchte, sich an der Wand abzustützen, da begriff er, daß die Stimmen aus den Wänden selbst kamen. Jeder einzelne Stein schrie ihn an, jeder einzelne Ziegel in dem Gewölbe schien ihm etwas sagen zu wollen, und er wußte, daß es keine schönen Dinge waren, die sie zu erzählen hatten. Der Mann preßte sich die Hände gegen den Kopf und sank vor dem Engel auf die Knie.
"Bring mich hier heraus!", rief er, "ich kann es nicht mehr hören!"
"Kannst du nicht, oder willst du es nur nicht hören?" fragte ihn der Engel. "Diese Mauern sind uralt, sie sind die ältesten Fundamente in dieser Stadt. Es ist über zweitausend Jahre her, daß diese Ziegel gebrannt wurden. Und das ist es auch, worauf diese Stadt errichtet wurde, auf dem Schreien und Flehen von Millionen und Abermillionen von Menschen."
"Dann mach, daß sie aufhören!", rief der Mann.
"Das kann ich nicht", sagte der Engel, "das kann ich nicht."
Er führte den Mann wieder aus dem Keller heraus nach draußen, und dort warteten sie etwas, bis der Engel schließlich sagte: "Es ist noch nicht vorbei, ich will dir noch etwas zeigen. Halt Außchau im Nebel, was siehst du?"
"Ich sehe nichts", sagte der Mann, "ich kenne diesen Nebel, jahrein jahraus kenne ich ihn, er ist das erste, was ich morgens sehe, wenn ich aus dem Fenster blicke. Es gibt in diesem Nebel nichts zu sehen."
"Es stimmt", sagte der Engel, "der Nebel ist zu dicht, um etwas zu sehen, deshalb werde ich dir wieder helfen."
Und abermals brach der Mann vor dem Engel zusammen, er warf sich zu Boden und preßte seine Hände auf die Augen. "Ich bin blind", rief er, "Ich kann nichts mehr sehen, und es tut so weh!"
"Du bist nicht blind," sagte der Engel, "du bist nur geblendet. Weil du das erste Mal durch den Nebel siehst. Und nun steh auf und öffne deine Augen."
"Ich kann nicht", sagte der Mann, "es ist zu hell."
"Doch, du kannst," erwiderte der Engel, "du konntest hören, und du kannst auch sehen. Steh auf, mach deine Augen auf und sag mir, was du siehst!" Und der Mann stand auf und machte seine Augen auf, und im Nebel erkannte er ein Flimmern und Flackern, wie von vielen kleinen Feuern, aber alle zusammen so hell wie eine Sonne.
"Jede Flamme so klein und so schwach wie ein Streichholz, das in der Nacht aufflammt," sagte der Engel, "aber es sind Millionen und Abermillionen. Jedes Wort, jeder Schlag, jede Zurückweisung, jede Gewalt, wie sie sich in die Herzen der Machtlosen einbrennt. Du hast gehört, wie die Steine schreien; hier siehst du, wie die kleinen Seelen verbrennen."
Einen Moment lang erkannte der Mann einen Ausdruck von tiefer Trauer auf dem Gesicht des düsteren Engels, dann sah er wieder den festen Blick. "Ich habe vieles gehört und vieles gesehen," sagte der Mann, "bitte bring mich jetzt wieder nach Hause."
"Du hast wohl recht," erwiderte der Engel darauf, "aber zu hören und zu sehen bringt dir noch gar nichts, solange du noch nicht wieder vertrauen kannst. Wenn du dich erinnerst, du hast noch eine Frage gestellt, und auch dabei werde ich dir helfen. Komm, gib mir deine Hand!"
Und als der Mann tat, wie ihm geheißen, da stiegen er und der Engel auf über die kleine, alte Stadt, und sie flogen dahin, in die große, neue Stadt, wo die große Liebe des Mannes lebte.
Und da waren sie mit einem Mal in ihrem Zimmer, und da saß die große Liebe des Mannes auf ihrem Bett und starrte ins Leere.
Der düstere Engel sah den Mann an. "Sie kann dich weder hören noch sehen, aber du kannst es jetzt, also höre. Und sieh."
Und der Mann sah seine große Liebe an. Und dann sah er die Millionen und Abermillionen von Tränen, die sie nie geweint hatte, und mit den Worten, die nur er hören konnte, erzählte sie ihm ihre Geschichte. Und es war eine Geschichte, die den Mann mitten in sein Selbst traf.
Es gibt kein Mittelding, sagte sie, nicht für mich. Kein Nebel, in dem ich mich verstecken könnte.
Und der Mann wäre am liebsten weit fortgelaufen, aber das konnte er nicht, am liebsten hätte er laut geschrien oder seine Fäuste gegen wie Wand geschlagen, aber auch das konnte er nicht, am liebsten hätte er so getan, als ob ihn alles das nichts anginge.
Und dann begriff er, daß das nicht stimmte.
Er hätte zu jeder Zeit fortlaufen können. Aber das wollte er nicht. Er hätte auch schreien und seine Fäuste an der Wand blutig schlagen können, aber auch das wollte er nicht mehr. Und er wußte, all das ging ihn etwas an.
Dann hörte er weiter der Geschichte zu, und gerade als der Mann glaubte, daß ihm das Herz in der Brust zerspringen müßte, da hatte der Schwarze Engel Mitleid mit dem Mann und seiner großen Liebe, er strich ihnen sanft über das Haar und ließ sie in einen tiefen Schlaf fallen.
Als der Mann wieder erwachte, da fand er sich auf seinem schmalen Bett liegend, und er starrte die Balken der Zimmerdecke über sich an. "Alles nur ein Traum", dachte er bei sich und stand auf. Und als er seine Beine über die Bettkante schwang und sich aufsetzte, da sah er wieder die seltsame Gestalt mitten im Raum stehen.
"Geh weg!", rief der Mann. "Dich gibt es gar nicht! Du bist nur ein Traum, nur ein Alptraum!"
"Du wagst es, zu behaupten, es würde mich nicht geben?", entgegnete ihm der Schwarze Engel mit mächtiger Stimme. "Dabei siehst du doch meine mächtigen Schwingen, und du siehst das Licht, daß um meinen Kopf erstrahlt. Hast du nicht die Steine schreien gehört, und hast du nicht die kleinen Seelen vebrennen sehen? Und warst nicht du es, der die ungeweinten Tränen deiner großen Liebe getrocknet hat? Ich habe dir all deine Wünsche erfüllt. Du hast die Stimmen gehört, die mit dir reden wollten, du hast die Menschen gefunden, die du schon so lange gesucht hattest, und deine große Liebe hat dir ihr Vertrauen geschenkt. Hast du etwa geglaubt, es würde einfach werden? Wie oft hast du dich in deiner Anmaßung gefragt, wie nur ein so großer, starker Mensch wie sie ein so kleines, schwaches Etwas wie dich mögen kann. Bist du nie auf die Idee gekommen, daß auch sie klein und schwach sein kann, und daß auch du groß und stark sein könntest? Wäret ihr beide nur stark, dann könntet ihr nicht zusammenkommen, und wäret ihr beide nur schwach, dann auch nicht. Für dich, kleiner Mann, ist es nun an der Zeit, groß und stark zu werden."
Das wollte der Mann nicht hören, er sprang auf und drängte sich an dem Schwarzen Engel vorbei, die Tür hinaus, auf die Straße, in den Nebel, und dort hörte er sie wieder schreien, die Steine, auf denen die alte Stadt gebaut war, und er sah die Feuer in der Nacht, und in den Millionen von Schreien hörte er die Stimme seiner großen Liebe, und in den Millionen von Flammen erkannte er das Flackern in ihren Augen. Und dann hielt er einen Moment lang inne, und er hörte einen Schrei, er sah eine Flamme in der Nacht aufleuchten, und dann trat er durch eine Tür, und auf dem Boden sah er ein kleines, hilfloses Etwas, ein menschliches Wesen, zitternd am ganzen Körper, die Tränen von Millionen weinend, und darüber ein anderes menschliches Wesen, zu groß, und die Hand erhoben. Und als die zu große Hand niedersausen wollte, und als die Angst dem Mann die Kehle zuschnüren wollte, da hob er doch seine Hand, bekam den zu großen Arm zu faßen und bremste ihn.
Und als der Mann wieder Luft holen konnte, da sagte er: "Nie mehr!" Und dann, für einen Moment nur, schwiegen die Steine, und in der Stille schwoll das Nie mehr! an, wurde lauter, und schließlich fegte es wie ein Sturm durch die Stadt, und blies den Nebel fort, und riß auch das viel zu große Wesen mit sich fort.
Und noch in der gleichen Stunde brach der Mann auf in die große, neue Stadt. Und in einem Keller unter der kleinen, alten Stadt, an einer Stelle im Mauerwerk, wo zuvor gar nichts gewesen war, sah man fortan das Bild eines Engels mit schwarzen Flügeln, der ein strahlendes Licht mit sich trug.
[Und noch in der gleichen Nacht stand der Mann an der Tür seiner großen Liebe, er klopfte, sie machte ihm auf und sah ihn verwundert an, dann sagte er: "Ich habe noch immer Angst, aber sie ist jetzt nicht mehr so groß, daß ich sie nicht überwinden könnte." Dann umarmten sie sich, und sie gingen gemeinsam in eine Nacht voller funkelnder Sterne, die ihnen einen Morgen ohne Nebel versprach.]