Vor vierzig Jahren, im Jahr 1974, veröffentlichte der us-amerikanische Psychologie David L. Rosenhan einen Artikel mit dem denkwürdigen Titel "On Being Sane in Insane Places" und berichtet darin über eine Reihe von Versuchen, die er in den Jahren 1968-1972 vorgenommen hatte und die heute unter der Bezeichnung "Das Rosenhan-Experiment" einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt haben.
Für mich war und ist Rosenhans Arbeit praktische Handhabe, um auf die Grenzen des psychiatrischen Systems hinzuweisen und dabei klarzustellen, dass auch Psychiater und Psychologen weder allmächtig noch allwissend sind. Von daher war es für mich eine Selbstverständlichkeit, für einen Donaustrudl zum Thema "Psychiatrie" genau darüber zu berichten. In den eineinhalb Tagen, in denen ich mich nochmal in das Thema eingelesen habe, u.a. in Rosenhans Originalartikel, der nie ins Deutsche übersetzt worden ist, hat sich auch zu meiner nicht geringen eigenen Überraschung das Destillat, das ich aus dieser Vorarbeit gewinne dann doch deutlich geändert.
Aber zunächst, zum Verständnis dessen, worüber ich überhaupt rede, ein kurzer Überblick über die damaligen Ereignisse.
Rosenhan hatte eine Gruppe von acht geistig gesunden Personen ausgewählt, ein Psychologiestudent, drei Psychologen, darunter er selbst, einen Psychiater, einen Kinderarzt, einen Maler und eine Hausfrau, die sich in insgesamt zwölf psychiatrischen Kliniken in den gesamten USA vorstellen sollten. Dort baten sie um Aufnahme unter der Schilderung, dass sie Stimmen hören würden, die immer wieder die Worte "empty", "hollow" und "thud" (leer, hohl, dumpf) wiederholten. Dies war von Rosenhan so ausgewählt worden, da diese Worte zum einen auf eine Lebenskrise hindeuten und zum anderen in der einschlägigen Literatur noch nicht so belegt waren, so dass nicht "nach Lehrbuch" vorgegangen werden konnte. Unmittelbar nach der Aufnahme sollten sich Rosenhans Pseudopatienten wieder völlig normal verhalten, also auch keine Symptome mehr schildern, sich darüber hinaus mit dem Ziel der baldestmöglichen Entlassung kooperativ verhalten sowie akribisch Tagebuch über ihre Erlebnisse führen.
Die darauf folgenden Ereignisse nahmen streckenweise bizarre Formen an.
Lediglich in einem Fall, in dem ein Rosenhan-Patient in einer teueren Privatklinik vorstellig geworden war, wurde "nur" eine manisch-depressive Erkrankung diagnostiziert, in den anderen elf Fällen wurde Schizophrenie attestiert. Der durchschnittliche Aufenthalt dauerte 19 Tage, in einem Fall wurde ein Patient nach schon sieben Tagen wieder entlassen, Rosenhan selbst hatte mit 52 Tagen die längste Verweildauer in der Psychiatrie zu verzeichnen. Die Patienten wurden mit über 2000 Einzelmedikationen, mit teilweise deutlich unterschiedlich wirkenden Medikamenten, behandelt. Die Tagebuchaufzeichnungen wurden zunächst im Geheimen, dann aber völlig offen geführt, da sich niemand dafür interessierte, lediglich in einem Fall wurde von einer Pflegekraft krankhafter Schreibwahn unterstellt. Kein einziger Patient wurde nach Abschluss der psychiatrischen Maßnahmen als gesund entlassen, sondern durchweg mit der Diagnose einer "abklingenden Schizophrenie". Auffallend ist, dass rund ein Viertel der Mitpatienten Rosenhans Pseudopatienten schon nach kurzer Zeit als nicht psychisch krank erkannten und sowohl den Patienten als auch dem Personal gegenüber als "not crazy", sondern eher als "Journalist oder Professor, der hier ist, um die Klinik zu testen" identifizierten, freilich ohne dabei auf Gehör zu stoßen.
Als wären diese Ergebnisse nicht schon interessant genug, erfährt die Geschichte einen noch spannenderen zweiten Teil.
Nachdem Rosenhans Arbeit erstmalig bekannt geworden war, meldete sich eine psychiatrische Klinik mit der zu erwartenden Aussage, dass bei ihnen so etwas nicht vorkommen könnte. Rosenhan vereinbarte mit der Klinik, in den folgenden drei Monaten einen oder mehrere Pseudopatienten vorbeizuschicken. Von den rund 200 Patienten, die in diesem Zeitraum in der Klinik aufgenommen wurden, wurde rund die Hälfte teilweise dringend verdächtigt, ein solcher Testpatient zu sein. Tatsache ist, dass Rosenhan keinen einzigen Testpatienten vorbeigeschickt hatte.
Rosenhan ging es in seiner Versuchsreihe um die Frage, nach welchen Kriterien psychisch Kranke von psychisch gesunden Menschen unterschieden werden können, und wie subjektiv diese Kriterien sind. Er selbst schließt seine Ausführungen mit den eindeutigen Worten "It is clear that we cannot distinguish the sane from the insane in psychiatric hospitals. The hospital itself imposes a special environment in which the meaning of behavior can easily be misunderstood. The consequences to patients hospitalized in such an environment -- the powerlessness, depersonalization, segregation, mortification, and self-labeling -- seem undoubtedly counter-therapeutic." Dabei lässt er keine Zweifel an der tatsächlichen Existenz von "psychological suffering", stellt auch nicht das psychiatrische System als solches in Frage, sondern die Art und Weise, wie in diesem System mit den Patienten umgegangen wurde. Es bleibt zu bedenken, dass Rosenhans Experiment nicht nur zeitlich, sondern auch soziokulturell einen großen Abstand zur Situation hier und heute einnimmt, auch wenn es in seinen wesentlichen Erkenntnissen von modernen Folgestudien bestätigt wird. Erst in diesem Jahrtausend, 2008 nämlich, führte die BBC unter dem Titel "How Mad are You?" ein Experiment durch, bei dem fünf als psychisch krank diagnostizierte Menschen mit fünf Gesunden zusammenlebten und dabei von Experten beobachtet wurden, die die Aufgabe hatten, letztlich die Kranken von den Gesunden zu unterscheiden. Das Testergebnis war indifferent und kaum anders als durch Zufallstreffer zu erklären.
Die Arbeit Rosenhans und seiner Nachfolger als Mittel der Psychiatriekritik angewandt lässt manche seriöse und noch mehr unseriöse Schlussfolgerungen zu. Bei der Lektüre des Originaltextes (die sich die meisten der von mir recherchierten Kommentatoren offensichtlich erspart haben) ist mir allerdings etwas gänzlich anderes aufgefallen.
Rosenhan benutzt oft die Begriffe "labeling" und "depersonalization". Labeling beschreibt dabei nicht nur das Phänomen, dass einem Menschen das Etikett "psychisch krank" angehängt wird, das er dann auch so leicht nicht mehr los wird, sondern dass der betroffene Mensch fortan auf dieses Label reduziert wird, dass nur noch dieser Aspekt seiner Existenz betrachtet und die anderen, die gesunden Persönlichkeitsanteile fortan außer Acht gelassen werden. Im nächsten Schritt der Depersonalization wird dabei auch noch die Menschlichkeit wegreduziert. Die Patienten werden überhaupt nicht mehr als Menschen betrachtet, sondern als Manifestation der Krankheit.
So grausam Labeling und Depersonalization schon allein unter ethischen Gesichtspunkten sind – sie sind kein ausschließliches Problem der Psychiatrie.
Zum einen, und es sei hier der Vollständigkeit halber gesagt, gibt es zahlreiche positive Erfahrungsberichte, die zeigen, dass solche Zustände nicht an der Tagesordnung sind, auch wenn sie nichts desto weniger bis heute trotzdem vorkommen und auch mir schon widerfahren sind. Zum anderen ist Depersonalization gesellschaftlich allgegenwärtig.
Eine Person, einen Menschen, ein Individuum in allen Facetten seiner Gesamtpersönlichkeit auf einen einzigen Aspekt dieser Persönlichkeit nicht nur zu reduzieren, sondern ihm oder ihr in dieser Reduktion oft genug auch das Menschliche und den Schutz durch die Menschenwürde abzusprechen kommt andauernd, in allen Lebensbereichen und auch von Seiten an sich intelligenter und zu differenziertem Denken befähigter Menschen vor.
Rosenhans Arbeit vierzig Jahre später auf den Aspekt der Psychiatriekritik zu reduzieren halte ich mittlerweile für kurzsichtig. Ich möchte sie statt dessen lieber erweitert als Gesamtgesellschaftskritik verstanden wissen. Auch als Spiegel, in dem wir uns immer wieder selbst betrachten und mit dem wir auch immer wieder Selbstkritik üben können.
Und als Instrument, um etwas zu identifizieren, was dann schon wieder ganz in David Rosenhans Sinne ist: The Insanity of a Sane Society