Ein voll besetzter Hörsaal, es fallen Schüsse, man hört Schreie, anschließend gespannte Stille. Die Schüsse und Schreie kamen zum Glück nur vom Tonband. Die Stille war sehr real und bezeichnend für die Gefühlslage der gut 250 Tagungsteilnehmer, die sich in Sulzbach-Rosenberg an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege (FHVR) eingefunden hatten. Im Publikum befanden sich Schulpsychologen und Lehrkräfte, Studierende der Polizeifachhochschule, leitende Behördenvertreter, und mitten darin auch ich als Berichterstatter für den Donaustrudl. Die staatlichen Schulberatungsstellen hatten zusammen mit der FHVR und der Polizei zu dem Symposion geladen, das unter dem etwas klobigen Titel „Schwere, zielgerichtete Gewaltlagen an Schulen“ stattfand, kürzer und eindringlicher „Amoklagen an Schulen“, oder „school shootings“, wie man auf Deutsch auch sagen darf. Und was wir gehört haben war der Mitschnitt eines Notrufes, abgesetzt im März 2009 von einem Schüler der Albertville-Realschule in Winnenden.
Nun mag man sich die berechtigte Frage stellen, welches Interesse eine Zeitung wie der Donaustrudl an einer Fachtagung
wie dieser hat. Letztlich eine müßige Frage, denn Gewalt ist ein soziales Thema, auch in ihren zum Glück weniger
alltäglichen Ausprägungen. Und Amokläufer fallen nicht vom Himmel. Dem Gewaltexzess geht ein manchmal jahrelanger
Entwicklungsprozess voraus, der seine Wurzeln letzten Endes auch in der sozialen Situation der potentiellen
Täterinnen und Täter hat.
Dementsprechend steht der Vormittag auch unter dem Zeichen der Früherkennung möglicher Amoktaten. Prof. Dr. Herbert
Scheithauer von der Freien Universität Berlin und Dr. Jens Hoffmann, Leiter des Instituts Psychologie und
Bedrohungsmanagement (IPBM) Darmstadt, beschäftigen sich mit der Frage, welche Umstände im Leben eines jungen
Menschen die Entstehung von Amokphantasien begünstigen und vor allem, wie man diese Umstände und Phantasien
erkennen kann. Projekte wie NETWASS, das „Network Against School Shootings“ (Scheithauer) stehen im Raum, oder
Dyrias, das „Dynamische Risikoanalyse-System“ des IPBM (Hoffmann), eine „webbasierte Software, die es ermöglicht,
in speziellen Situationen eine wissenschaftlich fundierte Risikoeinscha¨tzung vorzunehmen und so gezielt Bedrohungen
entgegenwirken zu können.“
Deutlich warnen jedoch beide Referenten davor, diese Werkzeuge dazu zu benutzen, unter den Schülerinnen und Schülern
eine Art Ranking aufzustellen, wer mehr oder wer weniger als möglicher Amokläufer in Betracht komme. Die Entwicklung
hin zur letztendlichen Gewalttat sei nie monokausal, eine entsprechend eindimensionale Sichtweise daher nicht zielführend.
Der Nachmittag begann mit dem Vortrag von Polizeioberrat Carsten Höfler vom baden-württembergischen Innenministerium in Stuttgart. Von ihm stammte nicht nur die Vorlage für meine oben bemühte Einleitung. Im Laufe seiner Ausführungen schwand für mich auch meine ganz persönliche Grenze vom Pressevertreter hin zum Tagungsteilnehmer; Amoktaten, so lernten wir am Vormittag, sind so genannte „Botschaftsverbrechen“, Amoktaten ziehen Nachahmer an, und ein Schwerpunkt in POR Höflers Arbeit besteht in der Analyse der Rolle der Medien im Hinblick auf nachahmungsfördernde Einflussfaktoren. Letztlich auch beeinflusst durch die mediale Aufarbeitung steigt in den Tagen nach solchen Taten die Zahl der entsprechenden Drohungen signifikant rapide an. Im Nachgang der beispielhaft zitierten Tat von Winnenden sprach der Deutsche Presserat mehrfach Rügen und Abmahnungen aus, wenn auch mit eher anzuzweifelndem Erfolg.
Das abschließende Podiumsgespräch bot dann auch den Zuhörerinnen und Zuhörern die Möglichkeit zu nachfragen. Zögerlich, denn immerhin saßen ja auch Vorgesetzte im Publikum, kam Kritik von Seiten der anwesenden Lehrkräfte an den sowohl zeitlich als auch personell viel zu geringen Ressourcen für die dringend notwendige Schulsozialarbeit. Immerhin eine gute Nachricht gab es für die anwesenden Polizeibeamten, die zusätzliche Schutzausrüstung, die in Baden-Württemberg nach Winnenden für die Einsatzkräfte zur Verfügung gestellt wurde, wird nun auch in Bayern nachbeschafft. Denn auch das hat der Mitschnitt des Notrufes noch einmal vor Augen geführt, dass im konkreten Fall keine Zeit bleibt, um auf das Eintreffen von Spezialkräften zu warten, weil mit jeder Sekunde Verzögerung Menschenleben in Gefahr sind.
Persönlicher Nachsatz: Geradezu zynisch – als ich am Abend nach dem Symposion „Gewaltlagen an Schulen“ nach Hause zurückgekommen und vor meinem nächsten Termin noch schnell die neuesten Nachrichten überflogen habe, stand genau an jenem Tag im Zusammenhang mit dem Germanwings-Unglück zum ersten Mal die These eines möglichen erweiterten Suizids des Copiloten im Raum. Zynisch deshalb, weil ich noch an jenem Abend, und in den Tagen und Wochen, die seither vergangen sind, Berichterstattung von einer Art miterleben musste, wie ich noch ein paar Stunden zuvor gelernt habe, dass man sie bitte vermeiden möchte. Den Germanwings-Absturz begrifflich wie inhaltlich in die Nähe einer Amoktat zu rücken ist unseriös und an den Haaren herbeigezogen. Von der großen deutschen Boulevardzeitung, die dies als erstes tat, war es wohl nicht anders zu erwarten. Traurig bis ekelerregend bleibt, dass sich auch zahlreiche so genannte ernstzunehmende Medien praktisch kritiklos den gleichen Standpunkt zueigen gemacht haben. Geradezu ironisch – dass ich, als ungelernter Schreiberling für ein oberpfälzer Provinzblatt, durch das, was ich mir in den letzten Jahren erarbeitet habe, und durch Teilnahme an Veranstaltungen wie in Sulzbach-Rosenberg, offensichtlich über mehr Kompetenz im Umgang mit solchen Großlagen verfüge als so mancher gut bezahlte Profijournalist. Geradezu sarkastisch – ein Psychotherapeut hat mir vor einigen Jahren im Gespräch anvertraut, dass die Mehrzahl seiner Klienten, die er u.a. wegen Depression und Burnout behandle, aus den Berufsgruppen der Polizei und der Lehrer kämen. Will man einer eindimensionalen Bildzeitungslogik folgen, habe ich jenen 26. März also unter lauter potentiellen Amokläufern verbracht. Zum Glück ist die Realität anders. Meine Realität bedeutet auch, mir aus meiner selbstbeweihräucherten Kompetenz auch eine Verantwortung herzuleiten, der ich mich als Medienvertreter auch weiterhin bemühen werde, nachzukommen. |
Literatur:
Scheithauer, Herbert: to come
http://www.ewi-psy.fu-berlin.de/v/netwass
Hoffmann, Jens und Roshdi, Karoline:
„Erkennen – Einschätzen – Entschärfen“ mit Dyrias-Schule. Ein Risikoanalyseinstrument zur
Prävention von schwerer, zielgerichteter Gewalt an Schulen.
In: Forum Kriminalprävention 3/2014, pp. 46-48
http://www.i-p-bm.com/dyrias.html
Höfler, Carsten:
Der Nachahmungseffekt von Amoktaten.
Wie Polizei und Zeitungen mit ihrer Verantwortung umgehen.
Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt/M., o.J.
Foto: Polizeipräsidium Oberpfalz