Erschienen in : Donaustrudl Veränderung
Nr. 134, Juni 2010
Irgendwann in den letzten paar Jahrzehntausenden Menschheitsgeschichte, so die einhellige Meinung der Intellektuellen, ist irgendetwas fundamental schief gelaufen.
Weitestgehende Einigkeit herrscht auch noch darüber, dass das Problem mit der Erfindung der Technologie in Zusammenhang stehen muss. Ich persönlich glaube, es begann, als einer unserer haarigen Vorfahren erkannte, dass es wesentlich effektiver wäre, seinesgleichen einen Stein auf den Kopf zu hauen anstatt einfach so auf ihn einzuschlagen. Sofern man es richtig machte, also wenn man darauf achtete, im Moment des Aufpralls nicht die Finger zwischen Stein und Kopf zu haben, tat einem hinterher nicht nur die Hand wesentlich weniger weh, auch der Schaden am Kopf des Gegenüber fiel wesentlich gravierender aus als es sich mit einem einfachen Fausthieb hätte bewerkstelligen lassen. Viel später, sehr viel später erst begannen einige unserer zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ganz so haarigen Vorfahren, das Prinzip des Stein-auf-den-Kopf-hauens an sich in Frage zu stellen. Allerdings war in jenen Tagen die Technologie bereits fortgeschritten genug, um den Stein nur noch in besonders verzweifelten Nahkämpfen oder aber in rituellen, mithin religiösen Situationen zum Einsatz kommen zu lassen, die zugrunde liegende Frage war dementsprechend rein akademischer Natur, und diejenigen, die sie stellten wurden auf die damals abschreckendstmögliche Weise entsorgt. Und darin liegt auch die Wurzel des Problems mit Leuten wie z.B. Jesus, denn mit Ausnahme jenes eher mitleiderweckenden Häufleins arbeits- und wohnsitzloser Idealisten sowie des einen oder anderen Weibsbildes von höchst zweifelhaftem Ruf hat ihm schon zu seinen Lebzeiten keiner geglaubt, und daran hat sich in den letzten 2000 Jahren nicht viel geändert.
Möglicherweise, und da werden mir die feministischen unter den Intellektuellen rechtgeben, hängt alles auch mit der Phallisierung der einschlägigen Technologie zusammen. Die Entwicklung weg vom weiblich-gerundeten Stein hin zu männlich-länglichen Tötungsmaschinerien, wie sie sich in Form von Pfeil und Schwert bis hin zu Geschützrohr und Interkontinentalrakete äußert, lässt für Frauenversteher, haarig oder nicht, nicht mehr viel Platz. Dennoch, manchmal, werte Damen, folgt die Form tatsächlich der Funktion. Nehmen wir — um bei der Jesus-Metapher zu bleiben — beispielsweise den Nagel. Sie können zwei Holzstücke aufeinanderlegen, drauf eine Stahlkugel oder einen beliebigen anderen, hinreichend widerstandsfähigen und dezidiert nichtphallisch geformten Gegenstand und können anschließend wie ein Irrer mit dem Hammer auf dieses Arrangement eindreschen, Sie werden nie eine kraftschlüssige Verbindung zwischen den beiden Holzstücken zu erreichen. Unter diesem Aspekt betrachtet war die Erfindung des Holzleims wohl ein wesentlicher Meilenstein in der Gleichberechtigung der Frau, zumindest im Zimmererhandwerk.
Aber lassen wir diese Abschweifungen und kommen wir zurück zur Brachialgewalt und deren Notwendigkeit. Nehmen wir das Beispiel der Erziehung. Zwar war der Rohrstock lange Zeit deren wesentliches Mittel, aber abgesehen von den in der Literatur immer wieder zitierten Einzelfällen hat es sich bei der Masse der zu Erziehenden recht schnell erwiesen, dass man den Rohrstock an sich nur ein oder zweimal tatsächlich einsetzen musste, um alleine schon mit seiner Androhung den gleichen manipulativen Effekt erreichen zu können. Im weiteren Verlauf des pädagogischen Fortschrittes ließ man dann den Begriff des Rohrstocks weg und verblieb einzig bei einer abstrakten Drohung, und schon war das höchst verderbliche Prinzip der Autorität geboren, das in den letzten Jahrhunderten Ursache für so viel Steineschmeissens war.
Der Psychoanalytiker Erich Fromm erläutert in seinem Buch Haben oder Sein den Unterschied zwischen Autorität haben und eine Autorität sein, aber im Bezug auf die metaphorisierte Autorität der Steineklopfer verhält es sich dabei ähnlich wie mit den archaischen Steinen selbst, dass nämlich ein genügend stark ausgeprägter Aspekt des Habens den Aspekt des Seins spielend in den Hintergrund drängt, und das nicht selten mittels der schon gewürdigten Brachialgewalt. In unserer modernen Gesellschaft, in der sogar das Denken und Fühlen mittlerweile hochtechnologisiert worden ist haben wir dafür freilich wesentlich effektivere Methoden als die Kreuzigung, die immer mit einem gewissen Unruhepotential sowie mit einer mords Sauerei verbunden ist. Wir lassen unsere Gewaltverweigerer einmal im Jahr, bevorzugt um Ostern (natürlich wegen der Jesus-Geschichte!) unbehelligt durchs Land marschieren und unterstützen sie sogar nach Kräften bei ihren Menschenketten von Bremerhaven nach Kiel oder sonstwo, und am Abend kehren sie dann wieder in ihre behaglich beheizten Naturholz-Behausungen zurück, zu deren Beheizung nebenbei bemerkt just in diesem Moment in anderen Teilen der Welt raketengetriebene Hightech-Steine lasergelenkt auf ganze Kompanien bestahlhelmter Köpfe herabstürzen, und sind für ein weiteres Jahr saturiert. Die wichtigste Waffe in diesem Kampf gegen die Ökopaxe ist mittlerweile der Friedensnobelpreis. Denn der wird jedes Jahr vergeben und eignet sich somit hervorragend, um den jeweiligen Preisträger und seine Ideen binnen Jahresfrist der Vergessenheit anheim fallen zu lassen. Ganz ehrlich, liebe Leserinnen und Leser, können Sie sich denn noch spontan an den Friedensnobelpreisträger vom vergangenen Jahr erinnern? Sehen Sie …
Der langen Rede kurzer Sinn besteht somit wieder einmal darin, dass alles beim Alten bleibt, nämlich dass wir seit der Steinzeit ganz gewaltige Fortschritte auf dem Gebiet der Technologie gemacht haben, hinter denen die charakterliche und spirituelle Entwicklung der Menschen nicht nur einfach hinterherhinkt, sondern von denen sie in einer Art und Weise überrollt worden ist, dass sie praktisch nicht mehr stattfindet. Lassen Sie mich daher meine düsteren Visionen auch mit einigen Sätzen beenden, die ich erst vor Kurzem einer mir sehr nahestehenden Person ins nicht weniger metaphorische Poesiealbum geschrieben habe:
"Es stimmt tatsächlich, wen Gott liebt, dem schickt er den Wahnsinn. Das ist allerdings nur der erste Teil der Vereinbarung. Der zweite Teil besteht darin, den Wahnsinn zu überwinden und zu einer höheren Ebene der Erkenntnis zu gelangen. Die organisierte Psychiatrie und ihr Rollkommando, die Pädagogen, bemühen sich seit einiger Zeit erfolgreich, diesen zweiten Teil zu eliminieren, weshalb sich die beiden vergangenen Jahrhunderte auch durch einen erstaunlichen Mangel an Erleuchteten bei einem gleichzeitigen Überangebot an Wahnsinnigen auszeichneten."