erschienen in : Donaustrudl Rechtes Auge blind?
Nr. 158, Juni 2012

 

Recht auf Selbstschädigung?

Viele Menschen haben beim Begriff Selbstschädigendes Verhalten das Bild von selbst beigebrachten Verletzungen vor Augen, wie es z.B. als Symptom bei einer emotional instabilen Persönlichkeit (Borderline-Störung) auftritt. Gerade das sprichwörtliche "sich ritzen", das nicht nur bei Borderline-Patienten zu beobachten ist, sondern auch allgemein oft Hinweis auf ein schweres seelisches Trauma, beispielsweise verursacht durch Erfahrungen von Misshandlung oder Missbrauch darstellt, wird gerne als Paradebeispiel herangezogen. Selbstschädigung geht allerdings noch viel weiter und tiefer, gerade auch in die vordergründig "normalen" Bevölkerungsschichten hinein. So genanntes Hochrisikoverhalten gehört dazu, wie der Konsum legaler wie illegaler Drogen, risikoreiches Autofahren, ungeschützter und häufig wechselnder Geschlechtsverkehr bis hin zur Spiel-, Kauf- oder Internetsucht, die regelmäßig schwere finanzielle Probleme nach sich zieht. Über die Grenzen scheiden sich die Geister. Ist schon der Stammtisch selbstschädigend, bei dem regelmäßig auch mehr als nur ein, zwei Halbe getrunken werden, schädige ich mich selbst, wenn ich bewusst ungesunde Ernährung in Kauf nehme weil es mir schmeckt, oder in der Umkehr, wenn ich mich unzureichend ernähre weil ich abnehmen will? Ab wie vielen Zigaretten beginnt die Selbstschädigung? Schädige ich mich selbst, wenn ich mich piercen oder tätowieren lasse?

Ich will mich nicht mit den theoretischen Aspekten des Themas befassen, sondern auf die moralisch-ethischen Gesichtspunkte eingehen.

Im Bezug auf Selbstschädigung kollidieren zwei wesentliche Menschenrechte. Das Recht auf persönliche Freiheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit einerseits, und andererseits das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Menschenrechte sind per definitionem unveräußerlich, sie können also auch nicht freiwillig aufgegeben werden. Gleichzeitig findet nach allgemeiner Rechtsauffassung die Freiheit des Einzelnen nur dort ihre Grenzen, wo sie in die Rechte oder die Freiheit anderer eingreift. Somit ist ein Eingriff in die eigene körperliche Unversehrtheit, sofern niemand anderes dadurch geschädigt wird, sowohl vom ethischen wie juristischen Standpunkt her zulässig. Dies würde auch für die höchste Form der Selbstschädigung gelten, der Selbsttötung, würde hier nicht eine andere Argumentation eingreifen. Die Grundvoraussetzung für die Inhaberschaft von Menschenrechten ist das Leben, also die physische Existenz als Mensch. Die bewusste Beendigung des eigenen Lebens ist damit die höchste Form der Veräußerung von Menschenrechten, die – wie oben erläutert – nicht möglich ist. Darin begründet sich dann auch die Legitimität von Suizidprävention, auch unter Anwendung von Mitteln des unmittelbaren Zwangs. Aber auch hier wird mit dem Eingriff in die Rechte Dritter argumentiert. So war in Großbritannien der versuchte Suizid bis 1961 strafbar, mit der Begründung, dass die Krone dadurch einen Untertanen verliere. Auch die religiös motivierten Selbstmordverbote zielen darauf ab, dass es Gott alleine zusteht, Leben zu geben und auch wieder zu nehmen. Die zivilrechtliche Begründung lautet, dass viele Methoden der Selbstschädigung bis zum Suizid eine Gefährdung Dritter mit einschließen und dass – vordergründig wohl zynisch, aber inhaltlich richtig – das Vorhandensein einer Leiche eine medizinische und biologische Gefährdung für die Umgebung darstellt, Suizidprävention wird damit zu einem Mittel der allgemeinen Gefahrenabwehr.

Was bleibt ist die primär nicht tödliche Selbstschädigung und die Frage nach ihrer Legitimität. Die Menschenrechte – mit denen oben schon argumentiert wurde – sind nach allgemeiner Auffassung Abwehrrechte des Individuums gegen Dritte zum Schutz der eigenen Freiheitssphäre (vgl. Ipsen: Völkerrecht, München 2004, S.788). Selbst in seine eigenen Rechte einzugreifen wird dadurch zu einer logischen Unmöglichkeit. Dies bedeutet auch, dass solange kein Eingriff in die Rechte Dritter vorliegt jede/r mit seinem eigenen Körper machen kann, was er/sie will. Eine Ächtung von Selbstschädigung ist damit ethisch nicht begründbar, und damit auch nicht die oft und gerne praktizierte Darstellung von Selbstschädigung als fehlerhaftes Verhalten.

Auf der moralischen Ebene steht jedem Individuum das unveräußerliche Recht zu, sich gegen selbstschädigende Verhaltensweisen als Teil der eigenen Lebenswirklichkeit zu entscheiden.

In verständlichen Worten auf den Punkt gebracht heißt das: Ich will weder Selbstmord noch Selbstverletzung gutheißen. Unabhängig von den juristischen Implikationen sind gerade bei Selbstverletzung auf einer emotionalen Ebene fast immer auch Dritte mit betroffen. Denn kein Mensch lebt für sich allein, und wenn eine mir nahe stehende Person sich selbst schädigt bin auch ich dadurch angesprochen. Abgrenzung, der für jeden von uns notwendige psychische Eigenschutz, darf nicht so weit gehen, sich vor der seelischen Not anderer zu verschließen.

Was ich will ist, Selbstschädigung zu entdiskriminieren. Damit ein Individuum sich in einem freien, moralischen Willensakt für Leben und Unversehrtheit entscheiden kann sind die sozialen Bedingungen wesentlich mit ausschlaggebend. Ein Umfeld zu schaffen, das als lebenswert empfunden wird und in dem der Einzelne sich selbst als lebens- und liebenswert empfinden kann, das ist nicht nur Wunsch, das ist Aufgabe. Für uns alle.

 

 


 

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