Erschienen in : Donaustrudl Plastik
Nr. 196, Juli 2015

 

Identifikation mit dem Aggressor

Ein Thema, das mich umtreibt ist die Reaktion der menschlichen Psyche auf traumatisierende Erfahrungen, insbesondere auf traumatisierende Erfahrungen aus dem Bereich der sexuell motivierten Gewalt. Ich erinnere daran, was die moderne Soziologie lehrt, dass Gewalt nicht erst bei ihrer Brachialform beginnt, sondern dass sie auch in Form psychischer, verbaler, struktureller Gewalt in Erscheinung tritt. Das ist nun alles schon sehr stark theoretisierend, und diese Theoretisierung (und, nebenbei gesagt, die mit ihr verbundene Sprache) dient auch dem psychischen Eigenschutz bei der Beschäftigung mit einem zu oft nur allzu monströsen Thema. Unter normalen Umständen würde ich mich der Situation wie beinahe schon standardmäßig annähern. Indem ich mich in einem geschützten Setting mit Experten unterhalte, die Literatur zitiere und mich hinter einem Schutzschild aus Zahlen und Statistiken verstecke.

Es sind keine normalen Umstände, unter denen ich diesen Text schreibe.

Eine Zahl in einer Statistik, selbst eine Fallbeschreibung in einem Gespräch oder einem Buch, befindet sich in großer emotionaler Distanz. Je näher einem die Betroffene eines Übergriffes steht, um so mehr schwindet die Objektivität. Entsprechend gebe ich zumindest zu einem gewissen Grad meine Objektivität auf und beschäftige mich von einem sehr subjektiv-emotionalem Standpunkt aus sowohl mit einem in der Kriminalpsychologie bekannten Phänomen als auch mit meiner ganz eigenen psychischen Reaktion drauf, dass ich es in meiner persönlichem Umgebung immer wieder und gerade wieder erfahren habe.

Ich spreche von dem vordergründig paradoxen Phänomen, dass Opfer sexuell motivierter Übergriffe, auch wenn sie sich des seelischen Schadens, den sie durch den Übergriff erlitten haben, durchaus bewusst sind, dazu tendieren, die Tat zu entschuldigen und zu banalisieren, sich mit dem Täter zu identifizieren und für ihn Entschuldigungs- und Rechtfertigungsgründe zu finden.
„Identifikation mit dem Aggressor“ nannte Anna Freud das bereits 1936. Ohne verschweigen zu wollen, dass dieses achtzig Jahre alte Theorem in seiner Eindimensionalität nur ein sehr grobes Werkzeug zur Beurteilung der Wirkmechanismen in der menschlichen Psyche sein kann, läuft es dennoch auf Folgendes hinaus:

Was die Betroffenen wollen ist, das Unnormale als Normal anzusehen, um damit den Schrecken, den die Situation in ihrer Unnormalität mit sich bringt abzumildern und sich daraus Linderung des Traumas zu erhoffen. Diese Reaktion ist verständlich, doch sie bleibt wirkungslos, da das Unnormale der Situation weiter unnormal bleibt und sich das Trauma im Unbewussten des Opfers nur noch stärker manifestiert. Dem Opfer entstehen Schuldgefühle, sich selbst gegenüber, aber auch dem Täter gegenüber. Und nicht selten entladen sich diese Schuldgefühle in Aggression, sich selbst gegenüber, aber auch gegenüber denjenigen Außenstehenden, die weiterhin auf der Unnormalität der Situation beharren und damit dieses einfache, aber eben destruktive Konstrukt zu destabilisieren drohen.
Eine einfache Form dieser Ablehnung ist die aggressive Ableugnung der Existenz eines Lösungsansatzes, ein Da-kann-man-sowieso-nichts-machen, und, wie ich sie oft erlebe, die soziale Ausgrenzung, ein geradezu kinderspielplatzmäßiges Du-gehörtst-ja-gar-nicht-wirklich-dazu. „Wer mit der Meinung nicht konform geht, wird als Ketzer gebrandmarkt, verleumdet und nach Möglichkeit diskreditiert. Die höchst spezielle Reaktion des 'Mobbing', des sozialen Hasses, wird auf ihn entladen.“ (Konrad Lorenz)

So weit die Theorie, bei der ich es belassen könnte, wäre da nicht meine persönliche emotionale Beteiligung.
Ich muss es zum wiederholten Male erleben, wie eine Kombination aus Gewalt und Drogen in mein persönliches Umfeld eindringt und dieses persönliche Umfeld zerstört. Daran sind in den letzten eineinhalb Jahrzehnten Freundschaften zerbrochen, Seelen sind zerbrochen. Menschen sind gestorben.
Wer seine Vergangenheit verdrängen wolle, so sagt man, sei gezwungen, sie aufs Neue zu durchleben. Ein Gemeinplatz, der immer wieder wiederholt wird, gebetsmühlenartig, bis zum Erbrechen. Ich hingegen habe nicht versucht, etwas zu verdrängen. Ich habe meine Erfahrungen der letzten Jahre immer wieder aufgearbeitet, auch in Beiträgen für den Donaustrudl, ich habe mich damit beschäftigt, buchstäblich bis zum Erbrechen, buchstäblich bis mich die Erinnerungen in einer Weise an Geist und Körper beeinträchtigt haben, dass ich mir wünschte, ich könnte sie vergessen.
Und dennoch wiederholen sich diese Erfahrungen immer wieder, und einmal mehr rühren sie bei mir an alte Traumata.

Ich bin immer noch davon überzeugt, dass es Sinn und Aufgabe des menschlichen Lebens ist, gesund und glücklich zu sein. Ebenso sehr bin ich davon überzeugt, dass sexuelle Übergriffe, dass Gewalt, dass Drogenkonsum und dass insbesondere eine Kombination aus den Dreien nichts mit einem gesunden und glücklichen Leben zu tun haben.

Möglicherweise ist es auch schon meinem fortgeschrittenen Alter geschuldet; noch nie war der Wunsch stärker, doch endlich resignieren zu können. Aber letztlich tue ich es dann doch nicht. Manés Sperber schrieb einmal, für ihn wäre es ab einem bestimmten Punkt leichter gewesen, zu schreiben als nicht zu schreiben. Auch ich habe etwas getan, was etwas aus der Mode gekommen ist und habe versucht, mit meinem Gewissen ins Reine zu kommen. Ich bin gedanklich und in aller Ernsthaftigkeit verschiedene Alternativen durchgegangen, darunter auch die Minimallösung, nämlich einfach gar nichts machen und so zu tun, als wäre nichts geschehen.Das hätte bedeutet, mich in den krankmachenden Sumpf aus Rechtfertigung und Schweigen sinken zu lassen.
Das Schweigen der Opfer, so heißt es, schützt die Täter. Und es ist nicht nur das Schweigen eines bestimmten Opfers, das einen bestimmten Täter schützt, es ist das Schweigen eines jeden Opfers, das alle Täter schützt.

Das gleiche gilt für das Schweigen der Mitwisser.

Vor dem historischen Hintergrund ist man beinahe versucht, es als typisch deutsche Krankheit zu begreifen, bei Gewalt und Unrecht im sozialen Umfeld wegzusehen und Dinge auch noch schönzureden, die zivilisierte Menschen um den Preis ihrer Zivilsiertheit nicht schönreden dürfen. Statt dessen schreibe ich diesen Text. Ein für mich eher trauriger Kompromiss, aber der Kompromiss, mit dem ich meine, mich – gerade auch vor mir selbst – am wenigsten schämen zu müssen.

 

 


 

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