Erschienen in : Donaustrudl Zeit
Nr. 140, Dezember 2010
Kinder, wie die Zeit vergeht ... dieser Spruch ist so zeitlos, daß ich jetzt, während ich dies schreibe, beinahe vermute, daß die Mehrheit meiner Redaktionskollegen eine ähnliche, wenn nicht gar die gleiche Einleitung benutzen werden. Ich sollte mir also tunlichst etwas anderes einfallen lassen. "Pflücke den Tag", raunt mir da ein kleiner, imaginärer, auf meiner Schulter sitzender Togaträger zu, und von der anderen Seite her ermahnt mich ein weiterer imaginärer Schultersitzer in Gestalt meines alten Lateinlehrers mit schulmeisterlich erhobenem Zeigefinger, daß dieses "carpe diem" auch angemessen als "Nutze deine Zeit!" interpretiert werden könne. Grund genug für den Mittdreißiger, Zeugnis abzulegen, wie er denn die letzten Jahre so verbracht hat. Das einzige Zeugnis freilich, das ich vorweisen kann ist dasjenige, welches mir die allgemeine Hochschulreife attestiert. Vor Ort angekommen erwies sich die Hochschule allerdings als allgemein zu unreif; ein Fach sollte ich lernen. Ein Fach, das erschien mir zu einfach. Dementsprechend habe ich mich die letzten Jahre zum Universaldilettanten herangebildet, immer bestrebt, auf allen Gebieten die Menge seines Nichtwissens zu reduzieren. Darob wurde mir letzthin schon gesagt, ich sei "so open-minded", und nein, trotz des Germanistikstudiums sehe ich mich nicht wirklich in der Lage, diesen Ausdruck vollinhaltlich richtig ins Deutsche zu übersetzen, weshalb ich ihn als Kompliment einfach mal im Raum stehen lasse. Manche Leute sagten gar schon über mich, ich wisse alles. Das ist natürlich weit übertrieben; ich verstehe relativ wenig von Fußball, mein Hocharabisch ist unter aller Kanone, und das Infinitesimalkalkül wird mir immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben, darüber hinaus aber bin ich in den letzten Jahren ganz gut geworden.
Nun mag man mir dementsprechend auch ein umfassendes Interesse an den Dingen der Wissenschaft und Gesellschaft unterstellen, aber ach, wie oft entfährt einem dann der Stoßseufzer des Johann Caspar Schmidt alias Max Stirner, Begründer des wissenschaftlichen Egoismus, der schon 1844 frustriert ausrief "Was soll nicht alles meine Sache sein!" Ein Jahr später erhielt er dann von seinem Busenfeind Karl Marx, den ich an dieser Stelle mutmaßlich nicht näher vorzustellen brauche, die Antwort: "Der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät." Daß Marx mit der Gleichsetzung 'des' Menschen mit der von ihm so liebevoll titulierten Sozietät genau das macht, was er im vorausgehenden Satz ableugnet, nämlich den Menschen als Abstraktum konstituiert, scheinen außer mir wohl noch nicht allzu viele bemerkt zu haben. Deshalb habe ich auch mit der Zeit gemerkt – und die Linkschaotischen unter meinen Leserinnen und Lesern mögen mir gegenüber Nachsicht walten lassen – daß ich nicht nur die Rechten, aus Gründen, die ich hier hoffentlich nicht zu erläutern brauche, sondern daß ich ebenso die Linken nicht mag, bei denen deshalb, weil sie durchweg vom ADAI-Syndrom befallen sind. Und ADAI, das steht hier für "Alle doof außer ich". Da schließe ich mich lieber ganz undogmatisch der "Ohne Dich ist alles doof"-Fraktion an, deren Leitsätze den unübersehbaren Vorteil haben, daß sie schon auf den ersten Blick als von einem Schaf stammend erkennbar sind, und wem aus meinem engeren sozialen Umfeld dieses "oDiad" nun gelten mag, darüber zu mutmaßen ist jeder selbst aufgerufen.
Was mir an den Linken auch missfällt ist eine gewisse "Vorwärts immer, rückwärts nimmer"-Einstellung. Ich will nicht die Rückwärtsgewandheit predigen. Aber zu denken gibt es mir doch, daß all diejenigen, die immer nur nach vorne und nie zurück schauen und das auch von anderen erwarten den Menschen damit wissentlich oder unwissentlich ihre Identität rauben. Denn auch wenn es Verlage gibt, die Millonenumsätze mit Büchern erzielen, die das Gegenteil behaupten, noch können wir nicht in die Zukunft schauen, es liegt somit in der Natur wie der Kultur der Menschen verankert, daß sie sich gerade auch in ihren Plänen für die Zukunft ihre Identität aus der Vergangenheit erschaffen. Wer den Menschen also ihre Vergangenheit nimmt, nimmt ihnen damit auch ihre Identität, und vielleicht mag ja das einer der Gründe für die in den letzten Jahrzehnten so bejammerte Vereinsamung des Individuums in der postindustriellen Gesellschaft sein. "With this great future, you can't forget your past", so sang Bob Marley, und "Recht hat er!", so schreit der kleine imaginäre Historiker, der sich zwischenzeitlich den Leuten auf meinen mittlerweile recht dicht besiedelten Schultern hinzugesellt hat.
Außerdem, und wer wüßte es nicht selbst, die praktische Erfahrung lehrt einem so viele Dinge, die eine theoretische Ausbildung nie zu vermitteln vermag. Auch dazu gibt es übrigens ein Zitat von Karl Marx, aber das ist Pfui, und wer unbedingt Lust auf Pfui verspürt, der kann ja mal nach MARX + PHILOSOPHIE + ONANIEREN googeln. Aber jeder von uns hat sein Lehrgeld bezahlen müssen, und das ist gut so, denn die Lehren, die wir aus unseren Erfahrungen ziehen sind es, die uns zu Menschen machen. Einige nicht unbedingt angenehme, aber sehr erhellende Erfahrungen waren es, die mich in den Vergangenen Jahren – meine treuen Stammleser wissen es, und zwecks Gefahr, eine unpopuläre Meinung zu äußern bitte ich abermals die andersdenkende Klientel um Nachsicht – zu einem bekennenden Fan der Bayerischen Landespolizei haben werden lassen, was sich unter anderem darin äußert, daß ich zu den rar gesähten Zeitgenossen gehöre, die gleich zwei Lieblingspolizistinnen haben, die an dieser Stelle nicht ungegrüßt bleiben sollen. Zwar tritt mir der unvermeidliche imaginäre kleine Linkschaot gerade mit seinen Stahlkappenstiefelchen gegen das Ohrläppchen, aber ihm zum Trotz zitiere ich erneut einen berufenen Mund bzw. eine berufene Feder, die von George Orwell nämlich, der so schön sagte: "Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen."
Damit ist nun fast alles gesagt, und um Ihnen nicht noch mehr Ihrer wertvollen Zeit zu rauben, schließe ich nun mit einem allerletzten, wenn auch für einen Universaldilettanten gemäß obiger Definition etwas ungewöhnlichen Zitat, wieder von Marx, diesmal aber nicht vom Karl, sondern von Groucho, der so schön sagte: "Whatever it is, I'm against it!"
Aufwiederlesen, und schreiben Sie mir doch an info@donaustrudl.de