Ein Gastbeitrag von Friedrich Sechziger
I just dropped in to see what condition my condition was in. Eine Zeile aus einem Lied, älter als ich, die mir seit Tagen als Ohrwurm durch den Schädel geistert und langsam mein Hirn spongifiziert. Wie mag es also um meinen Zustand bestellt sein? Standortbestimmungen nehmen wir Intellektuelle ja gerne einmal vor, wenn wir gerade nichts zu tun haben, oder wenn wir, wie ich zugegebenermaßen, mal wieder nach Aufmerksamkeit heischen. Ich für meinen Teil durchlebe nun schon seit geraumer Zeit eine mittelgradige bis episodenhaft schwere klinische Depression. Klinisch heißt, ich spreche nicht von den Phasen der Niedergeschlagenheit oder der moralischen Orientierungslosigkeit, wie sie alle kennen. Ich spreche von einem ernst zu nehmenden psychiatrischen Krankheitsbild. Und --- nein. Ich kann Ihre Gedanken lesen, und die Antwort lautet: Nein, Sie können sich als Gesunde nicht vorstellen, wie sich eine Depression anfühlt. Ich will nun aber weder Sie, meine lieben Leser, noch mich damit langweilen, Lehrbuchdefinitionen wiederzukäuen. Dazu empfehle ich Ihnen den einschlägigen Wikipedia-Artikel. Wenn Sie möchten, können Sie auch gleich einen der Selbsttests machen, die Ihnen Google vorschlägt. In erster Näherung denke ich, werden wohl drei von vier von Ihnen dabei vom Automaten eine Depression diagnostiziert bekommen. Aber keine Angst, diese Tests sagen mehr über sich selbst als über Ihren psychischen Zustand aus.
Ja, meine Lieben, ich bin psychisch krank. Und intellektuell, und ja, das geht zusammen. Und ich will anonym
bleiben, aus Gründen, die ich Ihnen nicht ersparen werde.
Rezidivierende Depression steht in meinem an Umfang doch recht ansehnlichen Diagnosenkatalog. Nicht meine
Hauptdiagnose, aber doch diejenige, die mir derzeit am meisten zu schaffen macht. In steter Konkurrenz dabei
die Panikstörung. Tatsächlich erscheint es mir bisweilen so, als müsste ich entscheiden, ob ich nun einen
depressiven Schub oder doch eher eine Panikattacke hätte. Beides gleich bedrückend würde ich, wenn ich denn
könnte, doch eher letztere wählen, die verbrennt mehr Kalorien. Ja, das ist zynisch, aber ich darf das.
Denn natürlich schlägt die Situation auch körperlich zu Buche. Weihnachten, Silvester und die umliegenden Tage
sind traditionelle Zeiten der Rückschau auf das vergangene Jahr, und auch des Blicks nach vorne. Die Retrospektive zeigt
nicht viel Positives (und das nicht erst in diesem Jahr), und die Zukunft bietet keine Perspektiven. Man kann mit Alkohol
dagegenhalten. Oder mit Psychopharmaka. Oder eben mit Frustfressen. Binge Eating gehört auch zu meinen
Diagnosen (Sie haben Wikipedia ja noch offen, oder?). Fett machen alle drei, und vom Spaßfaktor liegt das
große Fressen irgendwo zwischen den beiden anderen, also her damit.
Woher nun also dieser Zustand?
Ich bin in Anamnese mittlerweile ganz gut, und lebe nun auch schon lange genug mit meinem Hirn zusammen, um unser
Verhältnis etwas besser beurteilen zu können als manch' Außenstehender. Viele der Erschütterungen in meinem
Gedanken- und Gefühlserleben wurzeln in der tiefgreifenden Überzeugung, ich hätte es nicht verdient, daß es
mir gut gehe. Konjunktiv Irrealis. Denn der intellektuelle Anteil in mir, der auch maßgeblich an der Entstehung
dieses Textes beteiligt ist, weiß natürlich, daß das nicht stimmt. Da führt es auch nicht sehr weit, in der
Kommunikation mit eben jenem Anteil immer wieder zu erklären, ich hätte sehr wohl Gutes verdient. Die Poesiealbumsprüche
aus dem Handbuch „Kneipenthekenpsychologie für Anfänger“ kenne ich alle auswendig, und ab und an hängen sie mir
zum Halse heraus. Und dann plagt mich doch auch wieder in schönster Regelmäßigkeit das schlechte Gewissen.
Ein schlechtes Gewissen all' denjenigen gegenüber, die es nur gut mit mir meinen, und die in bester Absicht, ohne
es zu wissen, ohne es zu wollen, mir doch immer wieder einen Schlag ins Gesicht nach dem anderen verpassen. Ein
schlechtes Gewissen wie der Katzenjammer. Und ich zitiere Maxim Gorki: Gegen den Katzenjammer hilft nur der
Branntwein. Eine moderne Interpretation dieser Aussage findet sich im Begriff vom Teufelskreis.
Das misshandelte Kind, sowohl das Kind an Jahren, als auch das Innere Kind des späteren Erwachsenen, lernt
schnell, daß jede Art von Zuwendung besser ist als gar keine Zuwendung. Der buchstäbliche Vater aller Zynismen, den
auch mein Vater immer gern gebrauchte, wenn er mich verprügelte, lautet: Es tut mir mehr weh als dir. Die Apologie des
Autoritären, die bis heute nicht aus dem soziologischen Diskurs herauszubringen ist. Das Kind weiß intuitiv, daß
dieser Satz falsch ist. Aber ihn anzuzweifeln oder gar die Frage nach dem Warum hieße, die Autorität in Frage zu
stellen, was seinerseits wieder Strafe nach sich zieht, im schlimmsten Fall die Strafe der Nichtbeachtung. Ein Ausschluß
aus der doch so vital wichtigen Gemeinschaft, eine vor allem in späteren Jahren hochritualisierte Form
des „Du stehst jetzt so lange in der Ecke, bis du weißt, was du getan hast“. Es ist ein wenig wie bei Kafka. Es wird
über einen zu Gericht gesessen, ohne daß man eigentlich weiß, warum.
So erträgt das Kind die Gewalt, die körperliche, die emotionale, die strukturelle. Der intellektuelle Anteil wagt es
bisweilen noch, zu hinterfragen, während der Emotionale genau darunter bitterlich leidet, aus Angst vor den
Konsequenzen. Und so manifestiert sich die Überzeugung, daß einem nichts Gutes zueigen sein darf. Nicht
materiell, nicht emotional, nicht strukturell.
Genug des Schwadronierens, in guter narzisstischer Manier nun zurück zu mir.
Ich will anonym bleiben. Das offene Bekenntnis zu einer psychischen Erkrankung stößt so manchen Menschen vor den
Kopf. Auch wenn die Theorie anders lautet. Man fühlt sich unwohl in unserer Gegenwart. Zumindest so lange, bis
man uns besser kennenlernt.
An der mangelnden Fähigkeit zum Verständnis scheint es jedenfalls nicht zu liegen. Quer durch alle sozialen
Schichten, und quer durch alle Verhältnisse der sozialen Interaktion erlebe ich es regelmäßig, daß Menschen, die
mich zuerst kennenlernen und dann von meiner Erkrankung erfahren, mit einem hohen Maß an Verständnis und
Interesse reagieren. Breche ich damit nun die Lanze für die „Normalen“? Lesen Sie noch einmal nach, wohl kaum.
Ich höre oft, wenn ich nach einer gewissen Kennenlernphase von meiner Problematik erzähle, daß mein Gegenüber mir
ebenjene nie zu unterstellen getraut hätte. Vor allem, weil ich ja immer so einen positiven und heiteren Eindruck
mache. Ich freue mich dann immer, daß meine Maske so gut sitzt. Wenn das Gespräch etwas offener ist, erkläre ich
den Leuten dann, daß sie, wenn ich einmal nicht positiv und heiter bin, mich gar nicht erst zu Gesicht bekommen.
Und als Einschub (oder als kryptoapokalyptischer Vorverweis): Von vielen Suizidenten wird berichtet, daß sie in
den Stunden oder Tagen vor dem Suizid eine deutlich verbesserte Stimmung an den Tag legten, weil allein das Wissen
darum, daß das nun alles bald vorbei ist, sie wesentlich heiterer hat werden lassen.
Es braucht weniger als die Finger einer Hand, um abzuzählen, welchen Menschen ich es erlaube, mich auch in meinen
schweren Phasen zu erleben.
„Sag ihnen nicht die Wahrheit“ lautet eine meiner Rules of Engagement im Umgang mit den meisten Menschen. Das heißt, sag
ihnen nicht, wenn es dir schlecht geht. Sag ihnen das, was sie hören wollen. Die gebrochene Lanze? Eher nicht.
Nicht die mangelnde Fähigkeit zum Verständnis, sondern deren mangelnder Wille prägt unser Verhältnis zu den anderen.
Ich habe Mitpatienten, hochgeschätzte Freunde, die ich aus psychiatrischen Kliniken kenne, und die mich dennoch
drauf einschwören, auf die Frage, woher wir uns kennen mit „von einer Fortbildung“, „von der Uni“, „von dieser und
jener Party“ zu antworten, damit nur um keinen Preis zutage kommt, daß unser verbindendes Element die
psychische Erkrankung ist.
Sag ihnen nicht die Wahrheit.
Ich möchte aber auch ein wenig relativieren. Die Fronten zwischen „psychisch krank“ und „psychisch gesund“ sind
nicht so strikt abgesteckt, wie es das eben Gesagte erscheinen lassen mag. Allzu oft verletzen „wir“ uns
gegenseitig, und oft suche ich dann Rat und Hilfe bei den „anderen“.
In den letzten Monaten – wir haben Januar 2021 – versuchten immer wieder, psychisch kranke Menschen auf ihre
Situation unter den momentanen Umständen aufmerksam zu machen. Sie tun dies in der unbegründeten Hoffnung, daß uns
inmitten des allgemeinen Gejammers möglicherweise ähnliche Aufmerksamkeit zuteil wird wie Gastronomen,
Kulturschaffenden, überforderten Eltern oder Menschen, deren Lebensglück davon abhängt, ordentlich Party machen
oder mal eben auf die Seychellen jetten zu können. Wir werden auch weiterhin nicht gehört werden.
Und dennoch, wäre ich tatsächlich so pessimistisch, hätte ich diesen Text nicht geschrieben.
Es bleibt die Einsamkeit, die sich aus alledem ergibt, was ich eben so langatmig geschildert habe.
Es gibt Tage, da kann man mit mir zu jedem Volksfest, in jedes Kino, in jeden Club und zu jeder Party. Und es
gibt Tage, da sehe ich morgens aus dem Fenster, und wenn auf der Straße unter mir nur ein einzelner Mensch
vorübergeht, reicht mir das als soziale Interaktion schon wieder. In Hinblick auf Einsamkeit
unterscheiden sich diese Tage nicht. Carl Gustav Jung sagte: „Einsamkeit entsteht nicht dadurch, daß man
keine Menschen um sich hat, sondern vielmehr dadurch, daß man ihnen die Dinge, die einem wichtig
erscheinen, nicht mitteilen kann.“
Auch an meinem Grab werden Menschen stehen und fragen: „Warum hat er nur nichts gesagt?“
Die Antwort ist evident.