Erschienen in : Donaustrudl Alternatives Leben
Nr. 192, März 2015

 

Mehr oder minder ...

Wer Alternativen lebt, befindet sich fast schon per definitionem im Gegensatz zur breiten Masse, zu dem, was man heute so gerne den Mainstream nennt, und das gerne, ohne sich daran zu erinnern, dass jener Mainstream seine Anfänge ebenso als Minderheit hatte. Gegen Demokraten helfen nur Soldaten, hieß es im 19. Jahrhundert, und heute schicken demokratische Staaten ihre Soldaten in alle Welt, um Demokratie mit Waffengewalt zu erzwingen. Aber über dieses Thema zu reden ziemt sich mir heute nicht, statt dessen sei es mir erlaubt, einen Blick auf das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit zu werfen.

Ich selbst gehöre ja mehreren Minderheiten an. Und auch der einen oder anderen Mehrheit. Aber die Minderheiten sind bei mir eindeutig die Mehrheit.
Und obwohl keine einzige dabei ist, derer ich mich zumindest meinem subjektiven Empfinden nach schämen müsste, distanziere ich mich dennoch gelegentlich verschämt von der einen oder anderen meiner Minderheiten. Nicht, weil ich meinen Prinzipien untreu werden wollte, aber weil ich mit so manchem ihrer Exponenten nicht in einen Topf geworfen werden will. Denn oft genug findet sich eine selbsternannte Leitfigur, die nicht müde wird, der Hammelherde, und sei jene noch so klein, zu predigen, wie man denn gefälligst sein müsse, um ein/e gute/r [hier Minderheit einsetzen] zu sein. Und weil die meisten Minderheiten die unschöne Tendenz zeigen, Recht zu haben für sich in Anspruch zu nehmen und dies gleichzeitig der Mehrheit, eingeschlossen der Mehrheit der anderen Minderheiten, abzusprechen.

Und daran krankt auch mancher alternative Lebensentwurf. Führt dies doch dazu, dass eine unüberschaubare Anzahl immer kleiner werdender Minderheiten lieber untereinander in Konkurrenz tritt, um nicht zu sagen, sich untereinander befehdet, anstatt sich auf Gemeinsames zu besinnen oder gar die für sich selbst eingeforderte Toleranz gegenüber anderen walten zu lassen. "Ich bin veganer als du", lautete ein mit der zugehörigen Portion Zynismus geäußerte Satz in einer Redaktionssitzung, und ein Fundstück aus dem Internet besagt: "Freiheit ist nur so lange die Freiheit des Andersdenkenden, solange man selbst dieser Andersdenkende ist". (Quelle: www.zensurbalken.org). Treffende Einblicke in die Gedankenwelt so manchen Minderheitlers.

Zugegeben, die Tendenz mancher Minderheit, das Recht für sich zu beanspruchen basiert auf zahlreichen historischen Beispielen, bei denen sich ein Mehrheitsentscheid als im Nachgang nicht unbedingt richtig erwiesen hat. Daraus zu folgern, dass die Minderheit automatisch im Recht sei, erscheint mir dennoch über das Ziel hinausgeschossen. In letzter Konsequenz würde es bedeuten, dass die Verwirklichung alternativer Lebensentwürfe dem Prinzip nach antidemokratisch ist. Geradezu absurd mag es vor diesem Hintergrund erscheinen, wenn gerade Gemeinschaften, die sich bewusst als Minderheiten konstituieren, auf demokratische Abläufe, also auf die Herrschaft der Mehrheit, berufen.

Das Paradoxon lässt sich auflösen,ringt man sich erst einmal zu der Erkenntnis durch, dass Recht oder Unrecht eines Standpunktes nicht in zwingendem Zusammenhang mit der Anzahl seiner Vertreter steht.
Weitere Erläuterungen in diese Richtung wären vielleicht angezeigt, würden hier aber den Rahmen sprengen. Daher muss ich darauf vertrauen, dass mein Publikum sich seine eigenen Gedanken über das eben Gelesene macht. Und genau da liegt auch das Problem. Denn wenn uns keine Führer mehr sagen, wohin wir zu gehen haben, müssen wir uns unsere eigenen Gedanken über unseren Weg machen. Dass dies jedem gelingt, bleibt zu hoffen. Und wenn eine wohldurchdachte (!) Entscheidung dazu führt, sich einem eher traditionellen Lebensentwurf anzuschließen, kann dagegen auch nichts einzuwenden sein.
Die Praxis sieht meist anders aus. Ein verbreiteter Denkfehler der Alternativen besteht darin, eine Idee für um so richtiger zu halten, je manifester sie im engeren persönlichen Umfeld ist. Dabei wird dann geflissentlich übersehen, dass das eigene Umfeld nicht die Welt ist, und dass sich dieses Umfeld selbstverständlich auch irren kann. Dazu kommt die Tendenz, selbst Menschen, mit denen man zu 99% übereinstimmt wegen des einen Prozentes meist metaphorisch, oft genug aber auch somatisch niederzuprügeln.
Und letzten Endes entpuppt sich auch so manche so genannte Alternative oft als nichts anderes als eine Fortsetzung der ganz eigenen Opferrolle, wenn einem zur Identitätsfindung nichts anderes übrig bleibt, als eine abstrakte Schuld für das subjektive eigene Elend einer amorphen Masse der "Anderen" zuzuschreiben; worauf ich aktuell anspiele ist wohl evident.

Als Lösungsansatz präsentiere ich zwei Gemeinplätze, die deshalb nicht weniger Gültigkeit haben.
Nämlich das Heraustreten aus der Opferrolle und die Verwirklichung eines eigenen Lebenskonzeptes, sei es nun ein Minderheits- oder Mehrheitskonzept. Und die Erkenntnis, dass Freiheit ihre Grenzen dort, und nur dort findet, wo sie in das Leben anderer eingreift; und diese Grenzen sind weiter gefasst, als so mancher sich das vorzustellen getraut.

Man kann Menschen durch Gewalt von etwas zu überzeugen versuchen, durch Argumente, oder durch gelebtes Beispiel. Jeder von uns trägt Elemente von allen Dreien in sich, und wer behauptet, noch nie Gewaltphantasien einem Feindbild gegenüber gehabt zu haben, der lügt auch bei anderen Gelegenheiten. Ich für mich glaube mittlerweile, dass wenn ich jemanden wenn schon nicht von der Richtigkeit, dann doch zumindest von der Gültigkeit – denn dies ist der Unterschied zwischen Akzeptanz und Toleranz – meines Lebensentwurfes überzeugen will, dass das gelebte Beispiel die beste Möglichkeit ist, noch vor dem Argument, und auf jeden Fall noch vor der Gewalt.

Entsprechend rate ich abschließend, vor Einforderung von Toleranz für sich selber sich erst einmal in Toleranz anderen gegenüber zu üben, egal ob das nun viele oder wenige sind, sowie viel weniger Sendungsbewusstsein in der eigenen Sache. Dann klappt's auch mit den Mehrheiten.

 

 


 

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