Erschienen in : Donaustrudl Danke
Nr. 138, Oktober 2010

 

Danke wofür?

Bei dem Thema wurden Erinnerungen an meine Grundschulzeit wach, immer wenn wir in der ersten Stunde Religion hatten, und wenn wir dann den Schultag anstatt mit dem ansonsten obligatorischen Schulgebet mit dem Absingen eines Liedes begannen. Meine geneigte Leserschaft, der in ihrer Kindheit ein ähnliches Procedere widerfahren ist, wird nun sicher schon wissen, um welches Lied es sich dabei gehandelt hat. "Danke für diesen guten Morgen" haben wir da zweimal die Woche gesungen. Und natürlich habe ich damals in kindlicher Inbrunst mitgesungen, so wie alle anderen auch. Auch wie meine Mitschüler, von denen Jahre später bekannt geworden ist, dass sie in ihrem Elternhaus systematisch misshandelt und missbraucht worden sind, und so wie die vielen, denen es wohl ähnlich ergangen ist, bei denen es nur nie bekannt wurde. Was mögen sie damals empfunden haben, wenn sie sich unter fröhlicher Anleitung unserer Lehrerin bedanken mussten, und was mögen sie heute empfinden, wenn sie mit fast dreißig Jahren Abstand auf diese Zeit zurückblicken. Dankbarkeit für all diese "schönen Morgen" möglicherweise? Ich kann es mir ehrlich gesagt nur schwerlich vorstellen. "Danke für manche Traurigkeiten", heißt es einige Textzeilen weiter. Natürlich kann man heute, mit dem erwähnte zeitlichen Abstand und dem zwischenzeitlich angehäuften Maß an Bildung und Erfahrung ganz philosophisch argumentieren, dass auch die Traurigkeiten, die negativen Erfahrungen, das Leid und der Schmerz unabdingbare Bestandteile des Lebens sind und dass ganz nach dem Motto per aspera ad astra es gerade auch so manche negative Erfahrung war, die uns zu klügeren und im Idealfall auch besseren Menschen erzogen hat. Aber das Kind denkt nicht so. Das Kind hat ein Bedürfnis danach, fröhlich zu sein, ein Bedürfnis danach, glücklich zu sein, und die ihm auferlegte Pflicht, sich auch für die traurigen Dinge zu bedanken mag vielleicht einen pädagogischen Zweck erfüllen, nämlich den schon angedeuteten, dem Kind nahezubringen, dass es eben nicht nur glückliche Zeiten gibt. Dennoch beschleicht mich da manchmal der Gedanke, dass an dieser Stelle der Standpunkt des Kindes möglicherweise der richtige und der des Pädagogen der falsche ist. Ich versetze mich dann gedanklich in eine Welt, in der wir unseren Kindern beibringen, dass das Leid, der Schmerz und die Traurigkeit eben nicht — in diesem Fall buchstäblich — gottgegeben sind, und dass es deshalb nicht nur unser Recht, sondern unsere Aufgabe sein könnte, aktiv an der Beendigung von Leiden und Schmerzen mitzuarbeiten. Stellen Sie sich eine solche Welt vor — und seien Sie dankbar dafür, dass sie zumindest in Ihrer Vorstellung existieren darf. Das Kind freilich (und befragen Sie an dieser Stelle falls vorhanden doch auch einmal ihr eigenes inneres Kind) erlebt in dieser aufgesetzten, seiner eigenen Lebenswirklichkeit entgegengesetzten Dankespflicht seinen ersten inneren Konflikt, mehr noch, es endet, vielleicht nicht immer, aber viel zu oft, in der Sackgasse der Passivität, in der der Erwachsene schließlich in Leid und Schmerz verursachenden Missständen nicht mehr etwas sieht, das er beendigen kann und muss, sondern dem er wie einer überirdischen Macht ausgeliefert ist, und für die er — oder sie — sich auch noch demütigst bedankt. Danke für meinen Mann, der mich schlägt wie es mein Vater zuvor getan hat, sie meinen es nur gut mit mir, danke dafür, dass ich überhaupt Wohnung und Arbeit haben darf, auch wenn beides menschenunwürdig ist, danke, dass ich Nahrung und Wasser habe, auch wenn beides eigentlich ungenießbar ist, etc. etc. pp.

Was der persönlichen, falsch verstandenen Demut entspringt setzt sich dann im gesellschaftlichen Leben fort. Ein in der Fair Trade – Bewegung oft kolportiertes Zitat eines unbekannten Drittwelt-Bauern lautet "Wir brauchen eure Almosen nicht, wenn ihr uns gerechte Preise bezahlt." Ein wahrer Satz, aber er hat den Nimbus der Undankbarkeit an sich. Sollen die Armen doch froh sein, dass wir sie überhaupt unterstützen, so dass zumindest ihre physische Existenz gesichert ist, und alles, was darüber hinaus geht können sie sich dann erkaufen, im besten Fall noch durch Wohlverhalten. "Keine Leistung ohne Gegenleistung", so hat es unlängst ein Politiker formuliert, dessen Namen ich gar nicht mehr nennen will, und er übersieht dabei eines, dass nämlich der Bürger schon eine Vorleistung erbracht hat, dadurch nämlich, dass er sich am demokratischen Gemeinwesen beteiligt (und es nebenbei gesagt auch bezahlt, denn "Wer zoid schafft o'", wie eine alte bayerische Weisheit lautet). Der autoritäre Staat, in welcher Form auch immer er auftreten mag, definiert sich primär als ein Instrument der Herrschenden, um ihre Herrschaft auszuüben. Der demokratische Staat, in dem wir leben, legitimiert sich gänzlich anders, er ist die Organisationsform seiner Bürger, und die demokratischen Herrschenden sind lediglich deren Beauftragte, und ich denke, dafür dass wir sie legitimieren und ihnen ihre Herrschaftsposition erst ermöglichen ist es nicht zu viel verlangt, ein Minimum an entgegengebrachter Dankbarkeit zu erwarten.

Damit ich nicht falsch verstanden werde, ich möchte nicht zur Undankbarkeit auffordern. Es steht völlig außer Zweifel, dass wir in einem der womöglich freiheitlichsten Staaten der Welt leben dürfen, und es ist ebenso unzweifelhaft, dass wir im freiheitlichsten Staat leben, den es auf deutschem Boden jemals gegeben hat, und dafür haben wir allen Grund zur Dankbarkeit, insbesondere auch den Abermillionen gegenüber, die uns diesen Status in den vergangenen Jahrhunderten unter oft gewaltigen Opfern ermöglicht haben. Und aus dieser Dankbarkeit erwächst uns auch die Aufgabe, diese Freiheitlichkeit zu schützen, und auch dafür dürfen uns unsere Mächtigen, die Verwalter unserer Freiheit, dankbar sein.

Auch ich persönlich habe Grund, vielen Menschen gegenüber dankbar zu sein, und ich möchte die Gelegenheit dieses Heftes nicht ungenutzt verstreichen lassen, um anstatt vieler vor allem meine liebe C. sowie die Familie P. explizit zu erwähnen, ohne deren Hilfe es bei mir gerade in letzter Zeit nicht viel zu danken gegeben hätte. Aber zum Danke gehört untrennbar auch das Bitte, und zwar nicht das "Bitte um ein Almosen", sondern das Bitte, das mit einem ehrlichen Angebot verbunden ist. Wohlgemerkt, mit einem Angebot, nicht mit einer Verpflichtung.

Viele Miesepeter werden darin nun wohl eine Rechtfertigung zur Faulheit erkennen, aber das spiegelt nur genau wieder die eingangs geschilderte Geisteshaltung wider, die das Danke unter einem Zwang erpresst und dementsprechend auch nicht in der Lage ist, ein ehrliches Bitte zu formulieren. Zugegeben, die meisten von uns, und das schließt wohl Herrn Keine-Leistung-ohne-Gegenleistung mit ein, sind genau so erzogen worden, aber dann wäre es doch einmal an der Zeit, nach mehreren Jahrzehnten endlich diese infantile Haltung abzulegen und uns eine erwachsene, eine freie Grundhaltung zuzulegen. Wem das gelingt, der hat allen Grund, Danke zu sagen.

 

 


 

[Zurück zum Index]