Erschienen in : Donaustrudl Philosophie
Nr. 200, November 2015

 

Das Streben nach Freiheit und der Wille zur Macht

Warum strebt der Mensch nach Macht, und warum strebt er nach Freiheit? Und warum wird das eine so oft mit dem anderen verwechselt? Diese Fragen sollen im anschließenden Text abschließend beantwortet werden.

Nein, war ein Scherz, sollen sie natürlich nicht. Aber ich eröffne mit einer Metafrage, nämlich ob es überhaupt Fragen gibt, die abschließend beantwortet werden können. Als Erstes mag man dabei an Fragen denken wie „Wie viel ist fünfzehn plus siebenundzwanzig?“ oder „Was passiert, wenn ich mit einem Hammer auf den Kopf meines Kollegen schlage?“. Diese Fragen mögen einfach und mit hinreichender Abschließendheit beantwortet sein, solange wir uns im Rahmen des Gewohnten aufhalten, um nicht zu sagen, im Gehege unseres Tellerrandes verbleiben. Aber man braucht nur geringfügig die Ausgangsbedingungen zu ändern, um mit vordergründig einfachen Fragen zu hochkomplexen Ergebnissen zu gelangen (bei denen es sich, nebenbei bemerkt, nicht unbedingt um Antworten handeln muss). Es fängt schon damit an, wenn man Äpfel mit Birnen vergleicht, denn fünfzehn Äpfel plus siebenundzwanzig Birnen sind gerade nicht zweiundvierzig Was-auch-immer, sondern eben fünfzehn Äpfel und siebenundzwanzig Birnen. Und wenn es sich bei dem Hammer um einen sehr kleinen Plastikquietschehammer handelt und der Kollege, sagen wir, einen Stahlhelm trägt, wird außer einem gummiartigen Quietschen nicht viel passieren. Es sei denn, es handelt sich um einen außergewöhnlich humorlosen Kollegen. Der schlägt dann zurück, möglicherweise dann mit etwas, das aus Buchenholz und Gusseisen besteht.

Und da ist er auch schon, der Wille zur Macht, schmerzlich verspürt von demjenigen, welchen das Gusseisen trifft, und als Streben nach Freiheit deklariert von dem, der sich nicht gerne mit dem Quietschehämmerchen auf den Stahlhelm trommeln lässt.

Aber gehen wir zurück ad radices, buchstäblich in die düsteren Höhlen grauer Vorzeit. Wer, wie es mir unlängst in einem Museum für Frühgeschichte geschehen, sich in die Betrachtung steinzeitlicher Höhlenmalerei versenkt, dem fällt auf, dass bei den Jagdszenen aus dem Paläolithikum die Jagdbeute, die Tiere, mit naturalistischer Exaktheit dargestellt sind, dreidimensional und äußerst detailliert, während die Jäger, die Menschen, als die einfachen Strichmännchen wiedergegeben sind, die wir gemeinhin mit angeblich so primitiver Höhlenmalerei in Verbindung bringen.
Die im oben dargelegten Sinne ganz einfache Erklärung würde lauten, dass hier unterschiedliche Künstler, manche talentierter, andere eher weniger, am Werk waren, was sich dann ja auch wie ein roter Faden durch den Rest der Menschheitsgeschichte zöge. Die andere Antwort lautete, dass wer immer für das Gefälle im Detaillierungsgrad verantwortlich zeichnet, sich etwas dabei gedacht hat. Kurz zusammengefasst glaubt man heute, dass es dabei etwa um Folgendes ging: Ich, der Höhlenmensch, unterscheide mich qualitativ von den Objekten in meiner Umgebung, wie zum Beispiel der Höhlenwand oder dem Wollhaarnashorn, und ich kann diese Objekte manipulieren, beispielsweise durch Bemalen, oder indem ich mit einem primitiven Vorläufer des Quietschehammers darauf einschlage. Und diese steinzeitlichen Überlegungen kommen der neuzeitlichen kanonischen Definition des Begriffes Wille zur Macht schon recht nahe.

Die Freiheit des Höhlenmenschen kann man sehr wohl anzweifeln, aber das würde den Rahmen sprengen, deshalb bleibe ich innerhalb des Tellerrandes und erkläre axiomatisch, der Höhlenmensch war frei. Irgendetwas muss also in der Zwischenzeit passiert sein, das den Menschen nach Freiheit streben lässt, und sei es, in Ermangelung von Wollhaarnashörnern, nur die Freiheit, die Wände einer Höhle zu bemalen.

Und im letzten Halbsatz, liebe Leserin, lieber Leser, ist nun genau das passiert, was ich eingangs schon bejammert habe. So manch einer glaubt, nach Freiheit zu streben, und will doch nur Macht. Ein sehr primitives Beispiel dafür, wesentlich primitiver als der Höhlenmensch, aber gerade in jüngster Zeit wieder zu zehntausenden auf den Straßen unterwegs, ist die allenthalben so beliebte Politkerschelte. „Denen da oben“ zu sagen, was sie alles falsch machen, sei es bei einer Demo, am Stammtisch oder auf dem heimatlichen Sofa vor dem Fernseher, heißt dekonstruiert ja nichts anderes als „Was ich alles anders machen würde, wenn ich an der Macht wäre“. Und wenn zehn, hundert oder tausend Menschen irgendwo zusammenkommen und lautstark verkünden, dass die Welt besser würde, würden doch die anderen hundert oder tausend Millionen Menschen auch endlich das tun, was man selbst fordert, dann äußert sich trotz aller Freiheitsfahnendekoration darin das pure Machtstreben. Und daran krankt jedes Artikelgeschreibe, jedes soziale Projekt, jede offene Redaktionssitzung, jede Friedens- wie auch jede Pegida-Demo, dass unter dem Deckmäntelchen der Freiheit Macht in Form von Manipulation ausgeübt wird.

Mit diesem beunruhigenden Gedanken lasse ich mein Publikum nun alleine und wende mich wieder dem Tellerrand zu, und zwar von der Innnenseite her. Kein Strudl-Beitrag zum Thema Philosophie, ohne mit den Namen einiger Philosophen zu werfen! Für Heidegger war „der Wille zur Macht Nietzsches Antwort auf die metaphysische Frage nach dem Grund alles Seienden“ (Quelle: Wikipedia), und in fast schon prophetischer Vorausschau sieht Alfred Adler bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts „den Willen zur Macht auch kritisch als eine mögliche Überkompensation eines verstärkt erlebten Minderwertigkeitsgefühls.“ (ebd.) Und da ist es wieder, das Streben nach Macht als Freiheitsersatz. Aber gilt dann wirklich, um ein altes Zitat zu quälen, summa potestas summa captivitas, ist die höchste Macht wirklich auch die höchste Unfreiheit? Und, wenn man, was wohl unbestritten ist, Macht missbrauchen kann, kann man dann auch Freiheit missbrauchen? Der Tellerrand sagt uns: Ja. Freiheit findet ihre Grenze dort, wo sie in die Freiheit anderer eingreift. Neigt man zu eindimensionalem Denken, verortet man jenseits dieser Grenze die Macht. Denkt man etwas komplexer, fragt man nach der Macht desjenigen, der die Grenze definiert.

Das Quietschehämmerchen auf dem Stahlhelm ist das eine, das Gusseisen auf der Schädeldecke das andere Konzept dieses Spannungsfeldes. Die Grauzone dazwischen bietet Lohn und Brot für ganze Heerscharen an Ordnungshütern, Rechtsanwälten und eben – Philosophen.

Der Frage nach dem Willen zur Macht und dem Streben nach Freiheit, und warum das eine gerne mit dem anderen verwechselt wird, kann man sich auf ernsthafte Weise nur satirisch nähern. Versuchte man es anders, würde der entsprechende Text zum einen zu lang (oder zumindest zu lang für den Donaustrudl), zum anderen fühlte sich so mancher Mitmensch wohl verführt, mit Hämmern der eher brachialeren Sorte auf die Köpfe seiner Zeitgenossen einzudreschen – wieder einmal.

Und deshalb habe ich oben auch lieber die lateinische radix zitiert, die ist nämlich die Wurzel, unter anderem auch für das typisch deutsche Wort radikal, und das befindet sich in angenehmer phonetischer Nähe zum schönen französischen Wort ridicule, und das ist lächerlich. Und wer nun mit Harry Potter vertraut ist, der weiß, dass es das Lächerliche ist, das die Macht des Bösen besiegt.

Und deshalb ende ich meine Ausführungen, indem ich das Streben nach Lächerlichkeit fordere. Mit dem philosophischen Quietschehämmerchen in der Hand. Auf geht’s!

 

 


 

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